Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
bestimmt. »Ich habe mich schon immer für Tiere und Medizin interessiert, und besonders für Drachen. Vielleicht könnte ich dir etwas zur Hand gehen, wenn du der armen Kreatur hilfst.«
Thymara sah ihn verwirrt an. »Ihr?«
Das schmerzte. »Nun ja, wieso nicht ich?«
»Ich dachte nur … Na ja, Ihr könnt sie ja noch nicht einmal verstehen. Und Ihr seid so, nun ja, eigen. Sauber, meine ich. Mir fällt es schwer, mir Euch vorzustellen, wie Ihr Euch um einen schlammverkrusteten Drachen mit entzündetem Schwanz kümmert.«
Er lächelte. »Du hast mich kaum kennengelernt, Thymara. Ich glaube, du wirst bald merken, dass mehr in mir steckt, als es zunächst den Anschein hat.« Das war wenigstens nicht gelogen!
»Nun, wenn Ihr helfen wollt, könnt Ihr das tun. Doch erst übersetze ich das Gespräch zwischen Alise und Himmelspranke. Ich nehme an, das wird nicht lange dauern, weil sie bald das Fressen bringen. Und gewiss wird Himmelspranke so viel fressen wollen wie die anderen. Nach der Fütterung möchte ich nach dem Silberdrachen sehen.«
»Ausgezeichnet. Dann hole ich meine Ausrüstung und komme mit dir.«
»Ausrüstung?«
»Ich habe uns für die Reise eine medizinische Grundausstattung gekauft. Verbände und Kompressen. Scharfe Messer, falls wir sie brauchen. Alkohol, um die Wunden auszuwaschen.« Und um Proben zu konservieren. Mit ein wenig Glück würde er an ein Glas mit Drachenschuppen gelangen, bevor sie den Strand verließen. Sedric lächelte ihr aufmunternd zu.
Es lief nicht gut mit den Drachen. Das war Alise inzwischen klar geworden, und die Angst vor dem Versagen quälte sie. Wieso hatte sie sich jemals eingebildet, dass es ein Leichtes wäre, mit Drachen zu reden? In Träumen hatte sie es sich so ausgemalt, dass die Wesen bei ihrer Ankunft in der Regenwildnis eine Verwandtschaft mit ihr spüren und ihr ihre Herzen und Gedanken öffnen würden. Tja, diese Fantasien würden ganz bestimmt nicht wahr werden.
»Kannst du mir irgendwelche deiner Ahnenerinnerungen mitteilen?«, fragte sie die Drachin. Aus reiner Verzweiflung formulierte sie die Frage so direkt. Himmelspranke, wie ihre Hüterin sie nannte, war jeder anderen Frage bisher ausgewichen.
»Das bezweifle ich. Ich bin eine Drachin, und du bist nur ein Mensch. Höchstwahrscheinlich wirst du niemals auch nur erahnen können, was es bedeutet, ein Drache zu sein. Geschweige denn, dass du meine Erinnerungen verstehen könntest.«
Ein weiteres Mal machte Himmelspranke ihre Hoffnungen zunichte. Und das mit einer melodiösen Stimme, die vor Höflichkeit und Nettigkeiten triefte. Während sie mit Alise sprach, kreisten ihre lieblichen Augen, und Alise sehnte sich danach, mit diesem Wesen verbunden zu sein. Ihr war klar, dass sie dem Zauber der Drachin erlag. Sie wusste um die Hoffnungslosigkeit ihrer unerwiderten Verehrung, die sie der Drachin entgegenbrachte. Doch sie war machtlos. Je mehr die Drachin sie wie ein Kind behandelte und beleidigte, desto mehr verlangte es sie danach, ihre Anerkennung zu gewinnen. Dass sie in ihren Schriften darüber gelesen hatte, half ihr nichts. Selbst wenn man über Sucht las, vermochte man ihr doch zu erliegen.
Sie unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch: »Glaubst du, dass du mir jemals eine Frage beantworten wirst?«
Schweigend betrachtete die Drachin sie. Ohne sich zu bewegen, schien sie ihr näher zu kommen. Alise wurde von hingebungsvoller Liebe zu dem Geschöpf erfüllt. Wenn sie der Drachin nur alle Tage dienen konnte, wäre sie glücklich. Es war richtig gewesen, dass sie in die Regenwildnis gereist war, und wenn sie diese Drachin nicht flussaufwärts begleitete, wäre ihr ganzes Leben nichts als eine bedeutungslose Tragödie. Himmelspranke war ihr Schicksal. Keine andere Beziehung vermochte sie so sehr zu erfüllen wie diese …
So unvermittelt wie eine Puppe, die auf dem Boden aufschlägt, kam Alise zu sich und befand sich wieder am Strand an einem Sommertag. »Sie bringen das Fressen«, verkündete die Drachin, und Alise spürte, dass die Kreatur sie fortschickte. Es war eine Verzauberung gewesen. Die Drachin hatte mit ihr gespielt. Das ließ sich nicht leugnen, und sie sollte beschämt sein, dass sie dem Zauber so leicht erlegen war. Stattdessen aber empfand sie nur das jämmerliche Verlangen, Himmelsprankes Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Das erinnerte sie unangenehm daran, wie sie einst gegenüber Hest empfunden hatte, und der Gedanke an ihre heillose Erniedrigung brach den Zauber. Etwas in ihr
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