Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
sehr reizvoll gewesen. Thymara war es eine Freude gewesen, ihr den großen Fisch zu bringen, und diese Freude entsprang nicht nur dem Wunsch, ihr zu dienen, sondern ihr besser als Alise zu dienen. Sintara hatte sich schon darauf gefreut, die Eifersucht der beiden noch weiter anzustacheln. Deshalb nahm sie die derzeitige Zusammenarbeit der beiden Frauen mit Missvergnügen zur Kenntnis. Und dass sie sich mit derselben Beflissenheit, die sie ihr erwiesen hatten, um den Silberdrachen kümmerten, beleidigte sie. Selbst Alises nutzloser männlicher Begleiter hatte sich zu ihnen gesellt.
Prompt hatte Kalo den Moment, da sie abgelenkt war, ausgenutzt und seine Zähne in einen Ziegenkadaver geschlagen, der eigentlich näher bei ihr als bei ihm lag. Wütend fauchte Sintara und verbiss sich am anderen Ende der Beute. Diese war nicht groß. Kaum zerrte sie daran, fiel der verrottete Kadaver auseinander. Kalo schluckte seinen Teil hinunter und sagte: »Du musst deiner Dienerin mehr Respekt beibringen, sonst verlierst du sie.«
Es war erniedrigend, dass er Thymaras Abtrünnigkeit bemerkt hatte. Sintara war bereits kurz davor gewesen, zu den beiden Frauen zu gehen. Doch jetzt verbot ihr Stolz ihr das. »Ich brauche keine Hüterin«, teilte sie ihm mit.
»Natürlich nicht. Keiner von uns braucht einen Hüter. Trotzdem würde ich nicht zulassen, dass mir jemand meinen Hüter wegnimmt. Er ist zufriedenstellend. Dir ist bestimmt aufgefallen, dass der Anführer der Menschen mich ausgesucht hat. Er sagt, weil sie in mir den Anführer der Drachen erkennen.«
»Das tun sie? Wie schön für dich. Was für ein Jammer, dass die Drachen das nicht tun!« Schneller als das Blinzeln einer Eidechse ließ sie den Kopf vorschnellen und schnappte ein junges Flussschwein, das ihm direkt vor der Schnauze gelegen hatte, und zerrte es zu sich heran. Zornig versuchte er, seine missgebildete Schuppenmähne aufzustellen. »Erbärmlich«, sagte sie leise, als ob es nicht für seine Ohren bestimmt wäre. Mit den Kiefern hielt sie das Schwein gepackt, zermalmte es zu Brei und schlang es hinab. Nachdem sie geschluckt hatte, fügte sie hinzu: »Eine der Frauen, die mir dienen, besitzt viel Wissen über Drachen und Elderlinge und ist in ihrer Stadt eine Respektsperson. Weil sie mich so sehr bewundert, hat sie sich dazu entschlossen, uns zu begleiten. Natürlich weiß sie auch, dass die Drachen in der Vergangenheit stets ein Weibchen als Anführer anerkannt haben. Eine Königin, wie ich eine bin.«
»Eine Königin wie du? Dann gab es damals also auch schon Drachen ohne Flügel?«
»Immerhin habe ich Zähne.« Sie riss ihren Schlund auf, um ihn daran zu erinnern.
Gegenüber hob Mercor langsam den Kopf. Seit er geputzt worden war, funkelten seine goldenen Schuppen im Sonnenlicht. Ein blasser Fleck am Hals markierte die Stelle, an der er als Seeschlange vielleicht einst eine Augenzeichnung gehabt hatte. Obwohl er kleiner als Kalo und Sintara war, strahlte er Autorität aus, wenn er den Kopf hob. »Keine Kämpfe«, sagte er ruhig, als hätte er das Recht, sie zu maßregeln. »Nicht heute. Nicht kurz bevor wir von hier weggehen und uns auf die Reise zu unserer Bestimmung machen. Zu unserer Vergangenheit und Zukunft.«
»Was meinst du damit?«, fragte sie. Insgeheim war sie froh, dass er sie unterbrochen hatte. Denn sie hatte keine Lust zu kämpfen, solange es noch etwas zu fressen gab.
Mercor erwiderte ihren Blick. Seine Augen waren schwarz und glänzten wie Vulkanglas in ihren Höhlen. Doch sie gaben nichts preis. »Ich meine, dass wir heute unsere Reise nach Kelsingra antreten. Forsche in deiner Erinnerung, dann wirst du es vielleicht verstehen.«
»Kelsingra«, gab Kalo voller Skepsis zurück. Sintara vermutete, dass auch er froh war, dass Mercor sich eingemischt und einen Kampf verhindert hatte. Doch das konnte er nicht eingestehen, deshalb richtete er seine Geringschätzung auf den Golddrachen.
»Kelsingra«, bekräftigte Mercor, senkte den Kopf und schnüffelte am Boden nach Futterresten. Die Menschen hatten ihnen mehr als sonst gebracht, vielleicht als Abschiedsgeschenk. Oder weil sie ihre Vorräte loswerden wollten. Dennoch hatten die Drachen alles in kürzester Zeit verschlungen, und Sintara war sich darüber im Klaren, dass sie nicht die Einzige war, die noch immer Hunger hatte. Sie wünschte sie könnte sich daran erinnern, wie es war, satt zu sein. In diesem Leben hatte sie dieses Gefühl nie gehabt.
»Kelsingra«, wiederholte Veras plötzlich,
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