Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ihre Drohungen nicht wahrmachen konnte. Sie würde auch ohne ihn gehen. Natürlich! Weit fort, den Fluss hinauf, auf einem Schiff voller Seeleute und anderen rauen Männern, zu einem unbekannten Ziel. Und wenn sie zurückkehrte, was wäre dann? Dann würde Leftrin feststellen müssen, dass Hest nicht bereit war, die Schulden zu zahlen, die sie angehäuft hatte, während sie sich ihrem Aufpasser widersetzt hatte. Selbst wenn sie mit neuen Erkenntnissen nach Hause käme, wäre sie in Bingtown und Trehaug das Gespött der Leute. Dann hätte sie kein Zuhause mehr, in das sie sich flüchten konnte. Sie dachte daran, was Hest wohl mit ihrem Arbeitszimmer und ihren Schriften machen würde, wenn er herausfand, dass sie abgehauen war. Er würde alles vernichten. Sie wusste, wie gehässig er sein konnte. Die wertvollen alten Schriftrollen würde er veräußern, vermutlich in Chalced. Und die Übersetzungen würde er verbrennen. Nein, kam ihr der bittere Gedanke, er würde sie zusammen mit den Schriftrollen versteigern. Ganz gleich, wie zornig Hest war, er würde niemals eine Gelegenheit auslassen, einen Gewinn einzustreichen.
In hilfloser Wut knirschte sie mit den Zähnen. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie fragte sich, ob Hest dann endlich begreifen würde, wie wertvoll ihre Studien und Aufzeichnungen waren. Oder würde irgendein Sammler ihre Schätze aufkaufen, um sie unbesehen in seine Bibliothek zu stellen? Schlimmer noch: Würde jemand anders ihre Arbeit als die eigene ausgeben? Würde jemand all das, was sie mühsam über Elderlinge und Drachen herausgefunden hatte, zu seinem eigenen Vorteil nutzen?
Der Gedanke war unerträglich. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Arbeit so endete. Sie durfte ihr Leben nicht auf eine derart dickköpfige, kindische Weise wegwerfen. Sie musste nach Hause. Das war sonnenklar.
Der Gedanke würgte sie, und eine Weile heulte sie hemmungslos. Sie weinte, wie sie seit Jahren nicht mehr geweint hatte, von tiefen Schluchzern erfasst, zuckte ihr ganzer Körper. Die ganze Welt schien von ihrem Leid zu erbeben. Als das Schluchzen abebbte, fühlte sie sich, als hätte sie einen Unfall gehabt, als wäre sie gefallen oder verprügelt worden. Haarsträhnen klebten ihr an der schweißnassen Stirn, und ihre Nase lief. Ihr war schwindelig. Im Dunkeln stand sie auf, und ihr tat alles weh. Sie tastete so lange umher, bis sie in ihrem Koffer ein Hemd fand. Sie zog es heraus und wischte sich damit das Gesicht ab, ohne sich darum zu scheren, dass sie das Kleidungsstück dabei schmutzig machte. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Was spielte überhaupt noch eine Rolle? Noch einmal fuhr sie sich mit der trockenen Seite des Hemds übers Gesicht und warf es dumpf brütend zu Boden. Dann stieß sie einen mächtigen Seufzer aus. Die Tränen waren vergossen, und sie hatten ihr wie stets überhaupt nichts gebracht. Es war an der Zeit, aufzugeben.
Von der Tür erklang ein zaghaftes Klopfen. Sofort fasste sie sich ins Gesicht, tätschelte ihre Wangen und strich sich übers Haar. In diesem Zustand durfte sie niemand sehen. Sie räusperte sich und bemühte sich, schläfrig zu klingen. »Wer ist da?«
»Ich bin’s, Sedric. Alise, kann ich ein Wort mit dir sprechen?«
»Nein. Jetzt nicht.« Ehe sie darüber nachgedacht hatte, verneinte sie bereits seine Frage. Ihre tiefe Traurigkeit flammte auf und verwandelte sich plötzlich wieder in rücksichtslose Wut. Wieder wurde sie von Schwindel erfasst. Sie streckte die Hand aus und hielt sich an dem Tisch, den sie nie benutzen würde. Eine Zeit lang herrschte draußen starres Schweigen. Dann erklang Sedrics Stimme erneut, diesmal steif und sachlich.
»Alise, ich fürchte, ich muss darauf bestehen. Ich öffne jetzt die Tür.«
»Nein!«, rief sie ihm entgegen, doch da schwang die Tür bereits einen Spalt auf, sodass ein Streifen Mittagssonne in die winzige Kammer fiel. Instinktiv rückte sie aus dem Lichtschein und wandte ihr Gesicht ab. »Was willst du?«, fragte sie einen Atemzug später. »Ich packe gerade meine Kleider in den Koffer«, log sie. »Ich bin gleich bereit, mitzukommen.«
Er kannte keine Gnade und zog die Tür weit auf. Sie bückte sich, um das Hemd vom Boden aufzuheben, damit sie einen Grund hatte, ihm den Rücken zuzukehren. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und drohte umzukippen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr, fasste sie am Arm und hielt sie fest. Dankbar klammerte sie sich mit beiden Händen an seinen Arm und sah über die
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