Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
gewann sie absolute Gewissheit, und sie war überzeugt, dass ihr Verdacht wohlbegründet war. Hest hatte eine andere, und Sedric wusste darüber Bescheid. Er wusste es und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Hest in Schutz nehmen musste. Auf der Stelle beschloss sie, ihn von dieser Gewissenslast zu befreien. »Mach dir keine Gedanken deswegen, Sedric. Ich habe versprochen, dass ich nie wieder nachfragen werde, und dabei bleibt es auch. Ich frage mich auch nicht mehr, ob die anderen Frauen in Bingtown wissen, wie wenig ihm an unserem Ehebett liegt. Wenn sie ihn mögen, sollen sie ihn haben. Ich bin seiner groben Worte, seiner groben Hände und seines groben Herzens überdrüssig.«
Sie spürte, wie er verkrampfte. »Grobe Hände?«, sagte er mit erstickter Stimme. »Hat er … Alise, hat er dich … Hat Hest dich jemals geschlagen?« Er klang zutiefst entsetzt.
»Nein«, gab sie mit leiser Stimme zu. »Nein, er hat mich nie geschlagen. Aber ein Mann hat viele Möglichkeiten, grob mit seiner Frau zu sein, für die es keine Schläge braucht.« Sie dachte daran, wie Hest ihren Arm packte und drückte, wenn er eine Abendgesellschaft verlassen wollte und sie nicht sofort auf seinen höflichen Hinweis, es sei Zeit, nach Hause zu gehen, reagierte. Sie dachte daran, wie er ihr manchmal Dinge aus der Hand nahm. Er schnappte nicht danach, sondern wand sie ihr aus dem Griff, als wäre sie ein ungezogenes Kind. An seine Hände auf ihrer Schulter oder ihren Oberarmen wollte sie gar nicht erst denken. Manchmal packten sie so kräftig zu, dass Alise blaue Flecken bekam. Als bestünde die Gefahr, dass sie floh – wo sie doch seinen Versuchen, sie zu schwängern, nie irgendeinen Widerstand entgegengesetzt hatte.
Sedric räusperte sich und löste sich ein Stück von ihr. »Ich kenne Hest schon sehr lange«, sagte er steif. »Er ist kein schlechter Mensch, Alise. Er ist nur …« Er zögerte, und sie sah ihm an, dass er um Worte rang.
»Er ist einfach Hest«, beendete sie den Satz. »Er ist ein kalter Mensch. Er hat ein kaltes Herz und kalte Hände. Er schlägt mich nicht. Das braucht er aber auch nicht. Denn wenn es nicht nach seinem Willen geht, hat er ein brutales, gemeines Mundwerk. Allein mit einem Blick vermag er mich zu erniedrigen. Er prügelt mich mit Worten und lächelt dabei, als wüsste er nicht, was er mir antut. Doch das weiß er. Inzwischen bin ich in der Lage, mir das einzugestehen. Er weiß genau, wie sehr er mir wehtut und wie oft.«
Sie wich Sedrics erschüttertem Blick aus und sah zum vorbeigleitenden Ufer. »Es tut mir nicht leid«, sagte sie schließlich. »Es tut mir nicht leid, dass ich mich dir widersetzt habe, und es tut mir nicht leid, dass wir flussaufwärts reisen. Ich weiß, dass es töricht und gefährlich ist, und ich habe Angst. Ich habe Angst vor der Reise, und ich habe Angst vor dem, was mich bei meiner Rückkehr erwartet. Aber ich bereue nicht, dass ich es tue. Ich kehre meinem Leben nicht den Rücken, Sedric. Vielmehr ergreife ich die Gelegenheit, ein eigenes Leben zu haben, nur für eine kurze Zeit.
Was mir wirklich leid tut, ist, dass ich dich da mit hineinziehe, Sedric. Ich weiß, dass das keine Sache ist, die du freiwillig machen würdest, und ich wünschte, Hest hätte mich dir nicht aufgehalst. Aber ich gebe zu, dass ich froh bin, dass du zurück aufs Schiff gekommen bist und bei mir bist. Wenn ich mich schon auf ein schwachsinniges Abenteuer wie dieses einlasse, kann ich mir keinen besseren Gefährten als dich dafür vorstellen.«
Sie spürte, wie er nach einer Antwort suchte. Die Dinge, die sie ihm gesagt hatte, waren ihm unangenehm, und wahrscheinlich hätte er dies alles niemals über seinen Arbeitgeber erfahren sollen. Sie bemühte sich, es zu bereuen, aber es gelang ihr nicht. Sie hoffte nur, dass es nicht zerstören würde, was immer zwischen ihnen war. Fast wünschte sie sich, er würde sie in den Arm nehmen und festhalten, wenn auch nur für einen Augenblick und als ein Freund. Sie versuchte, sich an das letzte Mal zu erinnern, als jemand sie liebevoll umarmt hatte. Die flüchtige Umarmung kam ihr in den Sinn, als sie sich von ihrer Mutter verabschiedet hatte. Wann hatte ein Mann sie im Arm gehalten?
Nie.
Sedric nahm ihre Hände und drückte sie sanft, bevor er sie wieder losließ. Dann unternahm er einen kläglichen Versuch, heiter zu wirken, während er sich noch weiter von ihr entfernte. »Nun, vermutlich sollte das ein Trost für mich sein. Aber es ist keiner.«
Zwar
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