Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Schulter zu ihm auf. »Mir ist schwindelig«, gab sie atemlos zu.
»Das ist nur das Schwanken des Kahns auf den Wellen«, sagte er. Im selben Moment spürte sie, dass das Schiff sich bewegte. Hinter Sedric sah sie die mächtigen Baumstämme, von denen sich der Kahn flussaufwärts entfernte. Plötzlich verwandelte sich ihr Schwindelgefühl in das sanfte Heben und Senken des Bodens unter ihren Füßen. Gleich wurde ihr besser.
»Wir sind unterwegs«, sagte sie verwundert. Ihr fiel auf, dass sie noch immer seinen Arm hielt und über seine Schulter hinweg auf das vorbeiziehende Flussufer starrte. Sie konnte es nicht fassen. Sie hatte sich ihm widersetzt, und sie hatte gewonnen. Der Kahn trug sie stromaufwärts.
»Ja, das sind wir«, gab er knapp zurück.
»Es tut mir leid«, sagte sie und wunderte sich darüber. Denn es tat ihr nicht leid, ganz und gar nicht, und doch konnte sie nicht anders, als sich zu entschuldigen. Wann war es ihr derart in Fleisch und Blut übergegangen, sich jedes Mal zu entschuldigen, wenn sie etwas für sich selbst wollte?
»Mir auch«, erwiderte Sedric. Er holte tief Luft, und da wurde ihr plötzlich bewusst, wie dicht sie zusammenstanden. Es war fast schon eine Umarmung. Sie konnte ihn riechen, das herbe Duftwasser, das er trug, und die Seife, mit der er sich wusch. Sie war erstaunt, dass sie diese Gerüche erkannte. Denn sie erinnerten sie an Hest, und sie wich einen Schritt zurück. Auf einmal fragte sie sich, ob die beiden Männer dasselbe Duftöl benutzten. Bei dem Gedanken bildete sich eine steile Falte auf ihrer Stirn.
Seine Stimme war tief und voll Bedauern, als er ihren Gedankengang unterbrach. »Alise, das ist verrückt. Wir sind eben auf eine Reise ohne festes Ziel aufgebrochen, in ein Gebiet, das niemals kartografiert worden ist. Wir werden Wochen, wenn nicht Monate unterwegs sein! Wie kannst du so etwas nur tun? Wie kannst du deinem ganzen bisherigen Leben auf diese Weise den Rücken kehren?«
Erst empfand sie eine innere Ruhe, und dann überkam sie Freude, die so schwindelerregend war wie das sanfte Schwanken des Kahns. Er hatte recht. Sie ließ alles hinter sich. Kurz darauf fand sie ihre Stimme: »Meinem Leben den Rücken kehren, Sedric? Ich würde rennen so schnell ich könnte, um vor dem, was du für mein Leben hältst, Reißaus zu nehmen. Vor diesen Stunden am Schreibtisch mit der Feder in der Hand – ich lebe ein Leben, das aus Dingen besteht, die vor Jahrhunderten geschehen sind. Ich esse alleine. Ich gehe alleine zu Bett.«
Ihre Verbitterung schien ihn zu erschüttern. »Du musst nicht alleine essen«, sagte er unbehaglich.
Ihr Mund war trocken. »Wahrscheinlich muss ich auch nicht alleine ins Bett gehen. Aber wenn man heiratet, dann erwartet man, dass der Ehemann einen dorthin begleitet. Als Hest um meine Hand anhielt, glaubte ich, mir nie wieder Gedanken ums Alleinsein machen zu müssen. Ich dachte, er würde da sein, bei mir.«
»Hest ist bei dir, wann immer es geht.« Sedric klang unsicher, vermutlich weil er wusste, dass er log. »Er ist ein Händler, Alise. Du weißt, dass dies viele Reisen mit sich bringt. Wenn er nicht reist, kommt er auch nicht an die erlesenen Waren und kann nicht die Gewinne erzielen, die dir dein gewohntes Leben ermöglichen.«
»Du verstehst es nicht, Sedric.« Sie unterbrach die Wortspirale, die Hest ihr während ihrer ersten Ehejahre so häufig vorgesetzt hatte. Diese immer enger werdende Schleife aus Worten, die unweigerlich bewies, wie selbstsüchtig es von ihr war, nicht gerne Nacht für Nacht und Woche für Woche allein gelassen zu werden. »Es geht doch nicht darum, dass er so viel verreist ist. Das macht mir schon lange nichts mehr aus. Ich verzehre mich nicht nach ihm. Weißt du, was wirklich schlimm ist, Sedric? Dieses Gefühl der Freude, wenn er weg ist. Nicht, weil ich gerne allein bin. Ich habe mir inzwischen ein dickes Fell zugelegt und kann ganz gut alleine sein. Wenn er weg ist, denke ich nicht an ihn. Und ich frage mich auch nicht, mit wem er zusammen ist und wie er sie wohl behandelt.« Schlagartig hielt sie inne. Sie hatte Hest versprochen, ihn nie wieder der Untreue zu beschuldigen und ihn nie wieder zu verdächtigen. Sedric war dabei gewesen, als sie ihm das versprochen hatte. Deshalb presste sie ihre Lippen aufeinander.
Doch ihre Worte hatten ihn unangenehm berührt. Sie spürte, wie er das Gewicht verlagerte, als wolle er sich entfernen, wisse aber nicht genau, wie er sich elegant von ihr lösen sollte. Da
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