Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
waren seine Worte ungnädig, aber als sie sich umdrehte, blickte sie in sein wehmütiges Lächeln. Allerdings verschwand es schnell aus seinen Zügen, als hätte er nicht die Kraft, es lange aufrechtzuerhalten. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Ich gehe besser mein Zimmer einrichten. Wie es aussieht, werde ich da länger hausen, als ich dachte.«
Er ging so schnell hinaus, wie es die Höflichkeit erlaubte, und stapfte wütend zu seiner Kammer zurück, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass er vor ihr floh. Obwohl er genau dies tat.
Hinter sich schloss er die Tür zu seiner kleinen Kammer. Vorhin hatte er die Luftschlitze in der oberen Wandhälfte geöffnet. Er weigerte sich, sie Fenster zu nennen, denn sie waren zu weit oben und zu schmal, um eine vernünftige Sicht nach draußen zu gewähren. Immerhin ließen sie Dämmerlicht und einen Luftstrom herein, mitsamt dem Gestank des Flusses. An der Decke tanzten die Reflexionen der Wellen. Er setzte sich auf seine Truhe und starrte die geschlossene Tür an. Die Kiste mit der wertvollen Fracht stand auf dem Boden. Ein Vermögen in Drachenschnipseln. Und er fuhr mit ihnen stromaufwärts. Fort von jedem Gewinn, und von allem, was ihn überhaupt antrieb, ihn von Gewinn träumen ließ. Er hoffte, das Salz und der Essig würden die Fleischfetzen konservieren. Sie waren seine letzte Chance auf ein ehrbares Leben. Er legte den Kopf in die Hände und verkroch sich in die Stille.
Hest. Oh, Hest. Was haben wir ihr nur angetan? An welcher Grausamkeit habe ich mich mitschuldig gemacht?
Hests grobe Hände.
Er wollte nicht daran denken, vermochte aber nicht, etwas anderes zu denken. Er wollte sich Hests Hände nicht auf Alise vorstellen. Er wusste, dass Hest ihr beiwohnen musste, dass er sein Bestes geben musste, um einen Sohn zu zeugen. Sedric hatte sich bewusst geweigert, daran zu denken, wie das vor sich ging, oder sich zu fragen, ob Hest zärtlich und leidenschaftlich mit ihr war. Er wollte es nicht wissen, scheute vor den Gefühlen zurück, die das in ihm auslösen würde. Was machte es schon? Schließlich hatte es nichts mit Hest und ihm zu tun.
Aber er hätte sich nie träumen lassen, dass Hest grob oder gemein mit ihr war. Aber natürlich war er das. So war Hest. Er hatte starke Hände mit langen Fingern und kurzen, gut gepflegten Nägeln. Sedric wollte sich nicht ausmalen, wie diese Hände Alises Schultern packten, und wie sich seine Nägel in ihre Haut gruben. Dort würden sie kleine halbmondförmige Mulden zurücklassen, aus denen bis zum nächsten Morgen blaue Flecken werden würden. Sedric kannte das. Unwillkürlich nahm er die Hände vom Gesicht und rieb sich die Schultern. Es war Wochen her, seit Hest dort die letzten blauen Flecken hinterlassen hatte. Wie er sie vermisste!
Ihm kam die trostlose Frage in den Sinn, ob Hest ihn wohl auch vermisste. Wahrscheinlich nicht. In den letzten Tagen, die sie zusammen in Bingtown verbracht hatten, hatte Hest ihn erbarmungslos zurückgewiesen. Gleichzeitig hatte er seinen Sekretär damit beauftragt, all die Leute einzuladen, die ihn auf seiner nächsten Handelsreise begleiten sollten. Hest war nicht alleine unterwegs, und er würde ganz bestimmt keinen Gedanken an Sedric verlieren. Redding. Dieser verdammte Redding, der sein Interesse an Hest stets so frech zur Schau stellte. Redding mit seinem dicken, kleinen und unablässig grinsenden Mund und seinen Patschhänden, mit denen er ständig seine Locken zurechtstrich. Redding war bei ihm.
Sedric schnürte es die Kehle zu. Es wäre eine Wohltat gewesen, wenn er hätte weinen können, aber es ging nicht. Was er empfand, ging über Weinen hinaus. Hest. Hest. »Hest.« Er sprach den Namen laut aus, und es war ein Trost, der ihn traf wie ein Messerstich. Hest war der Einzige, der Sedric wirklich kannte, der Einzige, der ihn verstand. Und er hatte ihn abgeschoben, hatte ihn mit der Ehefrau, die er nicht liebte, auf diese absurde Unternehmung geschickt. Die Frau, die er mit seinen groben Händen anfasste, dieselben kräftigen Hände, mit denen er ihn an den Schultern gepackt und zu sich herangezogen hatte bei ihrer ersten verzweifelten Umarmung.
Sedric war kaum dem Knabenalter entwachsen gewesen, hatte sich erst ein paarmal rasiert. Er war hoffnungslos unglücklich gewesen, uneins mit seinem Vater und nicht in der Lage, sich seiner Mutter oder seinen Schwestern anzuvertrauen. Oder sich überhaupt irgendjemandem anzuvertrauen. Der Gedanke, dass Hest ihn nun erfolgreich in diese
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