Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
dass Drachen keine menschliche Hilfe nötig hatten. Offensichtlich war er geradezu hingerissen. Thymara wusste, dass Drachen für ihre gewinnende Ausstrahlung berüchtigt waren. Deshalb war sie überzeugt, dass der stets pragmatische Tats unter dem Zauber des Wesens stand.
Vermutlich stand auch sie selbst im Bann Himmelsprankes. Denn es hatte sie einigermaßen verletzt, dass Himmelspranke nicht einmal kurz aufgewacht war, um ihr von der erfolgreichen Jagd zu erzählen. Sie fühlte sich aus dem Leben ihrer Drachin ausgeschlossen und war ein bisschen neidisch auf Tats. Gleichzeitig kribbelte etwas in ihrem Hinterkopf, als ihr allmählich eine Erkenntnis dämmerte, gegen die sie sich bislang gesträubt hatte. Ganz gleich, wie sehr Tats lächelte, wenn er Blut und Eingeweide von Fentes Gesicht wusch, so war sie doch weder ein niedliches Schoßtier noch auch nur im Entferntesten zähmbar. Sie war eine Drachin, und obwohl ihre Prahlerei kindisch war, entdeckte sie doch rasch, was das bedeutete. Fentes Feststellung, dass sie Menschen nicht nötig hatte, war keine bloße Angeberei. Für den Augenblick mochten die Drachen die Hüter noch dulden, aber das würde vielleicht nicht ewig so bleiben.
Aus irgendeinem Grund hatte Thymara erwartet, dass die Drachen mehr oder weniger alle gleich waren. In ihrer anfänglichen Vorstellung von ihrem neuen Beruf hatte sie sich die Drachen als edle und intelligente Kreaturen mit einem großzügigen Wesen vorgestellt. Nun, vielleicht kam Sylves Golddrache diesem Ideal nahe, doch die anderen waren so unterschiedlich wie ihre Hüter. Tats’ Grüne konnte ein unerträgliches Scheusal sein, wenn sie wollte. Nortels lila Drache war schüchtern, aber wenn man ihm zu nahe kam, könnte er durchaus nach einem schnappen. Der gutmütige Lecter und der große blaue Drache, mit dem er sich angefreundet hatte, schienen gut zusammenzupassen, einschließlich der Dornen, die ihnen beiden am Hals wuchsen. Die orangefarbenen Drachen der Vettern Kase und Boxter schienen sich so ähnlich zu sein wie ihre Hüter.
Seit sie mit angesehen hatte, wie die Drachen geschlüpft waren, hatte Thymara in ihnen Geschöpfe gesehen, die Menschen brauchten, um zu überleben. Diese Sichtweise hatte sie für die Tatsache blind gemacht, dass sie in Wahrheit tödlich waren. Gewiss war ihr stets klar gewesen, dass sie groß genug waren, um einen Menschen mit Leichtigkeit zu zermalmen. Manche waren schnell und schlau, und sollten sie beschließen, Menschenfresser zu werden, würden sie gefährliche und gerissene Gegner abgeben. Bis heute waren ihre Überheblichkeit und ihre Verachtung gegenüber den Menschen nur eine entnervende Eigenart der Drachen gewesen. Jetzt wanderte Thymaras Blick von der lebhaften und zuweilen freundlichen Fente über die schlafende Himmelspranke zu Kalo.
Der größte und streitlustigste der Drachen hatte sich im harten Schilf ein einfaches Nest gemacht. Mit seinen großen Klauen hatte er die feuchte Erde samt den Riedhalmen umgepflügt, um sich einen Schlafplatz zu schaffen. Dort döste er, den massigen Kopf auf die Vorderpranken gebettet und die Schwingen an den Leib gelegt. Wie die anderen Drachen war auch er unfähig zu fliegen, doch abgesehen davon wirkte er voll ausgewachsen. Als Thymara sowohl den Blick als auch ihre Gedanken auf ihn richtete, meinte sie seinen Groll und seine hilflose Wut zu spüren. Sein gigantischer blauschwarzer Leib schien einen Kessel brodelnden Zorns zu bergen. Auf dem Boden, nicht weit von ihm entfernt, hockte Greft, sein Hüter. Die Schuppen des großen Drachen waren blitzend sauber, und Thymara fragte sich, ob Kalo sich selbst geputzt hatte, oder ob Greft ihn geschrubbt hatte. Der Hüter hatte die Augen geschlossen, und er machte den Eindruck, als wärme er sich an einem Feuer. Kurz meinte Thymara, dass er die schwelende Hitze von Kalos unterdrückter Wut genoss. Im selben Moment öffnete Greft die Augen. Sie erhaschte ein blaues Funkeln und sah schnell weg. Sie versuchte, so zu tun, als habe sie an ihm vorbeigestarrt, denn es wäre ihr unangenehm gewesen, wenn er bemerkt hätte, wie sie ihn beobachtete.
Trotzdem lächelte er und forderte sie mit einer unauffälligen Geste auf, zu ihm zu kommen. Sie gab vor, es nicht zu sehen. Darauf wurde sein Lächeln zu einem Grinsen, und er streckte die Hand aus und streichelte seinen Drachen. Langsam, sinnlich fuhr seine Hand über Kalos Schulter, als wolle er Thymara darauf hinweisen, wie stark der Drache war. Diese Vorstellung
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