Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
recht gehabt: Für den Wald war sie geboren. Bei den vertrauten Geräuschen der Tierwelt musste sie lächeln, und so drang sie tiefer in den Wald ein. Sie wollte allerdings nicht weiter in den Wald gehen, als sie ihrer Einschätzung nach die Beute transportieren konnte. Wenn sie bis dahin noch immer kein Glück hatte, würde sie sich mit den kleineren Tieren, die sie allenthalben sah und hörte, zufriedengeben und einen Sack davon zurücktragen. Fleisch war Fleisch, ob es nun in größeren oder kleineren Batzen daherkam.
Fast hatte sie den Punkt erreicht, wo sie umgekehrt wäre, als sie einen Elch erst roch und dann auch hörte. Es war ein alter Bulle, der seinen Buckel energisch und geräuschvoll an einem überhängenden Ast kratzte. Wie die meisten seiner Artgenossen hielt er in den Zweigen nicht nach Gefahren Ausschau. Da er groß war, würden sich die meisten Wesen, die ihm gefährlich werden konnten, ebenfalls am Boden bewegen. Fast tat er Thymara leid, während sie sich leise von Baum zu Baum näherte, bis sie direkt über ihm war. Geräuschlos tastete sie sich an einen Punkt vor, von dem aus sie freie Schussbahn hatte. Dann spannte sie die Sehne, hielt sie einen Moment und ließ den Pfeil davonschwirren. Sie war direkt über dem Tier und zielte auf eine Stelle unmittelbar hinter seinen buckligen Schultern. Sie hoffte, dass die Spitze in den Brustkorb eindringen und seine Lunge, wenn nicht gar sein Herz treffen würde. Als der Pfeil einschlug, war ein Geräusch zu hören, als klopfe jemand auf ein stramm gespanntes Trommelfell.
Der Elch zuckte kurz und schüttelte sich, als hätte sich lediglich eine Fliege auf seinen Pelz gesetzt. Dann aber, als der Schmerz ihn durchfuhr, preschte er stolpernd davon und folgte dem Wildwechsel in Richtung Fluss. Sie grinste herzlos. Wenigstens lief er in die richtige Richtung! Von Ast zu Ast hastend folgte sie ihm nach. Sie würde nicht eher zum Waldboden zurückkehren, bis sie sich sicher konnte, dass er tot oder doch beinahe tot war.
Sein Galopp wurde zunehmend mühsamer, und die Vorderläufe brachen unter ihm weg. Da glaubte sie bereits, er wäre erledigt, doch er rappelte sich noch einmal auf und rannte weiter. Vor Schmerzen schnaubend, blies er Blut aus Maul und Nüstern. Als er zum zweiten Mal zusammenbrach, blieb er liegen. Mit gezücktem Messer näherte sich Thymara und kletterte zu ihm hinunter. Seine großen braunen Augen funkelten sie feindselig an. »Ich erlöse dich«, sagte sie. Es kostete sie alle Kraft, ihm die Klinge in die Grube unterm Kinn zu stoßen. Das Messer drang durch dicke Haut und Muskeln, und als sie es wieder herauszog, wurde sie mit einer Blutfontäne belohnt. Der Elch schloss die Augen, und mit jedem Pulsschlag wurde die Fontäne schwächer, bis nur noch ein Rinnsal herausdrang. Da wusste Thymara, dass er tot war. Kurz überkam sie Bedauern, das sie aber sogleich beiseiteschob. Der Tod nährte das Leben. Er war Fleisch. Und er gehörte ihr.
Himmelspranke wäre zufrieden mit ihr. Aber nur, wenn sie das Fleisch zu der Drachin brachte, denn dass sie Himmelspranke hierherführte, war schlicht unmöglich. Für ein Wesen von der Größe der Drachin war der Wald viel zu dicht und zugewuchert. Die einzige Möglichkeit, das Fleisch zu ihr zu schaffen, war, es portionsweise zu tragen. Sie betrachtete den Elch abschätzend. Wahrscheinlich konnte sie einen Vorderlauf mit Schulter allein zum Lager schleifen. Dann würde sie mit Tats zurückkehren müssen, um den Kadaver auseinanderzuschneiden und vollends zurückzuschleppen. Einen Teil würde Tats für Fente bekommen, und sie könnten für sich und die anderen Hüter am Feuer etwas davon braten. Bei diesem Gedanken wurde sie von Stolz erfüllt. Denn sie bezweifelte, dass jemand außer ihr so geschickt bei der Jagd gewesen war.
Die Haut des Sumpfelchs war dicker, als sie gedacht hatte. Ihr Messer stellte sich als zu klein für diese Aufgabe heraus, und es stumpfte schnell ab. Zweimal musste sie unterbrechen, um es zu wetzen, und beide Male dachte sie besorgt an das schwindende Tageslicht. Im Regenwald war es ohnehin schon düster. Wenn sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück wäre, um das Fleisch abzuholen, wäre es hoffnungslos, danach zu suchen. Und bis zum Morgen hätten es die Aasfresser bis auf die Knochen abgenagt. Schon jetzt zog das Festmahl Heere von Ameisen und Insekten an.
Nachdem sie die Haut ringsum aufgeschlitzt und das Fleisch bis zum Knochen zerteilt hatte, musste sie ihre
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