Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
ihrer Hinterläufe war stärker als der andere. Das allein war schon schlimm, doch als sie diesen Fehler mit einem Flügelschlag ausgleichen wollte, ließ sich nur eine der beiden Schwingen entfalten. Die andere blieb eingeklappt. Verwirrt, schwach und nicht in der Lage, sich abzufangen, stürzte sie in den Uferschlamm. Verblüfft blieb sie auf der Seite liegen. Der Aufprall war lähmend gewesen, aber mindestens ebenso benommen war sie von dem Wissen, dass keinem der Drachen, zu denen ihre Erinnerungen zurückreichten, etwas Vergleichbares geschehen war. Zunächst konnte sie diese neue Erfahrung nicht einordnen. Ihr fehlte der innere Kompass, der ihr sagte, was sie als Nächstes zu erwarten hatte. Mit dem stärkeren Flügel stieß sie sich vom Boden ab, rollte dadurch aber nur auf den Rücken. Für einen Drachen war das eine äußerst unangenehme Haltung. Schon bald wurde das Atmen mühsamer. Zudem war ihr bewusst, dass sie in dieser Haltung ungeheuer verletzlich war, und es stieg eine leichte Panik in ihr hoch. Ihre lang gestreckte Kehle und der von feinen Schuppen überzogene Bauch waren völlig ungeschützt. Sie musste schnellstens wieder auf die Beine kommen.
Probehalber ruderte sie mit den Hinterläufen, doch trafen sie auf keinen Widerstand. Auch ihre kurzen Vorderläufe scharrten nutzlos im Leeren. Der gefaltete Flügel war teilweise unter ihrem Rumpf begraben. Sie strampelte sich ab und versuchte, sich mithilfe der Schwinge auf den Bauch zu rollen. Aber ihre Muskeln gehorchten ihr nicht. Endlich gelang es ihr, indem sie mit dem Schwanz peitschte, sich auf den Bauch zu wälzen. Zappelnd bemühte sie sich, die Hinterläufe auf den Boden zu setzen und sich aufzurichten. Ihr Leib war zur Hälfte mit klebrigem Lehm bedeckt. Sie empfand eine Mischung aus Wut und Scham darüber, dass ihre Gefährten sie in einer solch peinlichen Lage gesehen hatten. Sie schüttelte sich den Lehm aus den Schuppen und blickte sich finster um.
Nur zwei andere Drachen hatten sie beobachtet. Jetzt, da sie wieder auf den Beinen war und die beiden bedrohlich anstarrte, verloren sie das Interesse an ihr und wandten ihre Aufmerksamkeit einer anderen Gestalt zu, die am Boden lag. Dieser Drache rührte sich jedoch nicht mehr. Kurz beäugten die beiden den am Boden Liegenden skeptisch, doch sobald sie überzeugt waren, dass er tot war, neigten sie die Köpfe, um ihn zu verspeisen. Sintara machte zwei Schritte auf sie zu, hielt dann aber verwirrt inne. Ihr Instinkt befahl ihr, dorthin zu eilen und zu fressen. Schließlich gab es dort Fleisch. Fleisch, das sie stärken würde. Zudem enthielt das Fleisch Erinnerungen. Wenn sie es verschlingen würde, würde sie nicht nur Kraft bekommen, sondern auch die unbezahlbare Erfahrung einer anderen Drachenlinie. Davon konnte sie auch die Tatsache nicht abbringen, dass sie selbst nahe daran gewesen war, sich in ein solches Fleisch zu verwandeln. Im Gegenteil hatte sie umso mehr Grund, sich zu nähren und zu stärken.
Es war nicht verkehrt, dass die Stärkeren die Schwächeren fraßen.
Doch zu welcher Gruppe gehörte sie?
Mit ihren unterschiedlich kräftigen Läufen torkelte sie ein paar Schritte weiter, bevor sie erneut innehielt. Sie zwang sich, die Flügel auszubreiten. Doch nur die kräftige Schwinge entfaltete sich. Die andere zuckte nur. Sie bog den Hals herum, da sie den Flügel mit dem Maul in die richtige Position bringen wollte. Fassungslos starrte sie ihn an. Dieses verkümmerte Ding war ihre Schwinge? Es sah aus wie die haarlose Haut eines Rehs, das über das Skelett eines im Winter erlegten Beutetiers gespannt war. Aber nicht wie eine Drachenschwinge. Nie würde es sie tragen können, nie würde sie sich damit in die Luft erheben. Sie stieß mit der Schnauze dagegen und konnte kaum glauben, dass es ein Teil ihres Körpers war. Ihr warmer Atem strömte über das schwächliche, unbrauchbare Ding. Angewidert von der Missbildung zog sie die Schnauze zurück. Ihr schwirrte der Kopf, während sie krampfhaft einen Sinn darin zu erkennen versuchte. Sie war Sintara, ein Drache, eine Drachenkönigin, die geboren war, um die Weiten des Himmels zu beherrschen. Diese Abartigkeit konnte unmöglich ein Teil von ihr sein. Sie durchpflügte ihre Erinnerung, ging immer weiter zurück, um irgendeinen Gedanken, das Erlebnis eines Vorfahren zu finden, der mit einem ähnlichen Unglück hatte fertigwerden müssen. Doch da gab es keinen.
Wieder sah sie zu den beiden Fressenden hinüber. Von dem verendeten
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