Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
vorbeiflog und einen Bock abwarf, entstand ein solches Chaos, dass Thymara ihren Versuch, die Geschöpfe zu zählen, aufgeben musste. Sie spürte, wie ihr Vater näher kam, um sich neben ihr auf den Ast zu kauern. Noch ehe er etwas sagen konnte, hob sie an: »Ich komme auf mindestens fünfunddreißig.« Sie tat, als hätte sie überhaupt nicht gehört, was er zu Rogon gesagt hatte.
»Zweiunddreißig. Es ist einfacher, wenn man einzelne Farbgruppen zählt und sie hinterher zusammenrechnet.«
»Oh.«
Es entstand ein kurzes Schweigen, bevor er weitersprach. Doch dann klang seine Stimme tiefer und ernster.
»Ich habe aufrichtig gemeint, was ich zu ihm gesagt habe, Thymara. Es war meine Entscheidung, und ich habe sie nie bereut.«
Sie erwiderte nichts. Was sollte sie ihm auch darauf antworten? Sich etwa bei ihm bedanken? Das wäre ihr irgendwie kalt erschienen. Sollte ein Kind sich jemals bei seinen Eltern dafür bedanken, dass es am Leben war? Sollte sie ihrem Vater dafür danken, dass er sie nicht ausgesetzt hatte? Sie kratzte sich im Nacken, grub ihre Nägel in die Schuppen auf ihrer Wirbelsäule, um ein Jucken zu vertreiben. Dann wechselte sie unbeholfen das Thema. »Was glaubst du, wie viele von ihnen überleben werden?«
»Ich weiß nicht. Ich vermute, dass das ganz stark davon abhängt, wie viel Futter Tintaglia herbeischaffen kann und ob wir zu dem Versprechen stehen, das wir der großen Drachin gegeben haben. Schau mal da rüber.«
Die stärksten Jungdrachen hatten sich bereits um den neuen Kadaver gedrängt. Die schwächeren Geschwister wurden nicht vorsätzlich von der Beute ferngehalten, aber es blieb einfach kein Platz mehr für weitere Esser. Und diejenigen, die sich als Erste um das tote Tier geschart hatten, ließen sich nicht mehr vertreiben. Thymaras Vater zeigte jedoch auf etwas anderes. Am Rand der Reifegründe tauchte eine Gruppe Männer auf, die Körbe herbeitrugen. Viele von ihnen hatten tätowierte Gesichter. Ehemalige Sklaven, die erst kürzlich in die Regenwildnis gekommen waren und versuchten, sich hier eine Existenz aufzubauen. Eben rannte der Erste von ihnen ein paar Schritte vor, kippte hastig seinen Korb aus und eilte wieder zurück. Auf das mattgraue Ufer ergoss sich ein Berg schlüpfriger, silberner Fische. Ein zweiter Träger schüttete den Inhalt seines Korbs auf den Haufen, und auch ein dritter tat es ihm gleich.
Mittlerweile hatten die Drachen es bemerkt, die bei dem Tierkadaver leer ausgegangen waren. Langsam wandten sie die Köpfe. Dann lösten sie sich wie auf ein Kommando von den fressenden Drachen und rasten mit vorgereckten, schlangengleichen Hälsen und keilförmigen Köpfen auf die Fische los. Der vierte Träger sah auf, stieß einen Schrei aus und ließ seinen Korb fallen. Aus dem Korb, der über den Lehm kullerte, klatschten Fische zu Boden. Der Mann spielte nicht den Helden, sondern wirbelte herum und rannte davon. Drei weitere Männer hinter ihm ließen ebenfalls ihre Körbe fallen und nahmen die Beine in die Hand. Bevor die Flüchtenden noch den Schutz der Bäume erreicht hatten, machten sich die Drachen bereits über die Fische her. Die Art, mit der sie nach den Fischen schnappten und die Köpfe zurückwarfen, um sie zu schlucken, gemahnte Thymara an Vögel. Auf die erste Welle von Drachen folgte eine weitere, doch diese stolperten und wankten. Es waren die Lahmen und Verkrüppelten, die Blinden und – wie Thymara zu bemerken glaubte – die Dummen. Sie stießen schrille Schreie aus, während sie herbeitorkelten. Plötzlich kippte ein bleicher blauer Drache um und blieb auf der Seite liegen. Dessen ungeachtet bewegte er weiterhin die Läufe, als würde er auf das Fressen zumarschieren. Bislang interessierten sich die anderen noch nicht für ihn. Doch bald, so ahnte Thymara, würde er Futter für die anderen sein.
»Anscheinend mögen sie Fisch«, bemerkte sie, um nichts anderes sagen zu müssen.
»Wahrscheinlich mögen sie jegliche Art von Fleisch. Aber sieh, es ist schon alles weg. Das war der Fang eines ganzen Vormittags, und sie haben ihn innerhalb weniger Herzschläge verschlungen. Wie können wir einen solchen Hunger stillen? Als wir den Handel mit Tintaglia eingegangen sind, dachten wir, die frisch geschlüpften Tiere wären wie sie. Bereits wenige Tage, nachdem Tintaglia aus dem Kokon gekrochen war, vermochte sie selbstständig zu jagen. Aber wenn es mich nicht täuscht, kann keines dieser Wesen seine Flügel gebrauchen.«
Die Jungdrachen leckten und
Weitere Kostenlose Bücher