Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
schnupperten an dem Lehm. Ein grünes Tier streckte den Kopf in die Höhe und ließ ein langes Heulen hören, von dem Thymara nicht wusste, ob es ein Klagelaut oder eine Drohung war. Dann senkte der Grüne den Kopf und merkte, dass der blaue Drache nicht mehr mit den Pranken ausschlug. Da stürzte er auf ihn zu. Als die anderen das mitbekamen, eilten sie ebenfalls in die Richtung. Der Grüne verfiel in einen wankenden Trab, und Thymara sah weg. Sie wollte nicht mit ansehen, wie der Blaue gefressen wurde.
»Wenn es uns nicht gelingt, sie zu füttern, werden die Schwächeren vermutlich verhungern. Irgendwann werden es nur noch wenige Drachen sein, die wir durchfüttern können.« Sie bemühte sich, ruhig und erwachsen zu sprechen, schließlich äußerte sie eben jene Schicksalsergebenheit, die der Philosophie der Regenwildhändler zugrunde lag.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte ihr Vater. Seine Stimme klang hart. Tadelte er sie etwa? »Oder glaubst du, dass sie anderes Fleisch finden werden?«
Blut, kupfern und warm. Nichts anderes wollte sie. Sie streckte die lange Zunge heraus und leckte sich übers Gesicht. Nicht, um es sauberzuwischen, sondern um auch noch die letzten Schlieren Nahrung zu erhaschen. Das Reh war köstlich gewesen, noch warm und weich. Als sie ihre Zähne in den Bauch des Tieres geschlagen hatte, waren aus den Eingeweiden aromatische Dämpfe gestiegen. Wie fein und wohlschmeckend … aber es war so wenig gewesen. Das sagte ihr jedenfalls ihr Magen. Sie hatte beinahe ein Viertel des Rehs verschlungen und alles, was von ihrem Kokon übrig geblieben war, nachdem sie daraus geschlüpft war. Damit sollte sie sich wenn schon nicht gesättigt, so doch einigermaßen behaglich fühlen. Das wusste sie, genau so, wie sie viele andere Dinge über das Leben als Drache wusste. Schließlich trug sie die Erinnerungen unzähliger Drachengenerationen in sich und konnte darauf zurückgreifen. Sie musste im Geist nur zurückblicken, um die Gebräuche ihrer eigenen Art zu verstehen.
Und sie musste sich einen Namen wählen, fiel ihr plötzlich ein. Einen Namen. Einen passenden Namen, der ihr, die sie zu den Herren der Drei Reiche gehörte, gut zu Gesicht stand. Kurz verdrängte sie ihren Hunger. Erst ein Name, dann ordentlich die Schuppen säubern. Und wenn sie die Flügel erst einmal geputzt hätte, würde es auf die Jagd gehen. Und auf der Jagd würde sie Beute erlegen, die sie mit niemand anderem teilen musste! Bei dem Gedanken daran überlief sie ein Schauer. Sachte löste sie die Schwingen von ihrem Rücken und schlug vorsichtig damit. Auf diese Weise würde das Blut schneller durch ihre rauen Flughäute strömen. Der Windstoß, der dabei entstand, riss sie beinahe von den Füßen. Sie stieß ein herausforderndes Krächzen aus, um allen, die sich vielleicht über sie lustig machen wollten, unmissverständlich klarzumachen, dass sie diesen Schritt zur Seite absichtlich getan hatte. Dann hatte sie das Gleichgewicht wiedererlangt. Welche Farbe hatte sie überhaupt in diesem Leben? Sie krümmte den Hals und drehte den Kopf nach hinten, um sich zu betrachten. Blau. Blau? Die ordinärste Farbe für einen Drachen? Kurz wurde sie von Enttäuschung übermannt, doch dann wischte sie das Gefühl beiseite. Blau. Blau wie der Himmel, damit sie im Flug nicht so leicht gesehen wurde. Blau wie Tintaglia. Für blaue Haut musste man sich nicht schämen. Blau … war … Blau war … Nein. Blau ist . »Sintara!«, zischte sie ihren Namen, um zu probieren, wie er sich anhörte. Sintara. Sintara am klaren blauen, morgendlichen Sommerhimmel. Sie reckte den Hals, holte Luft und warf den Kopf in den Nacken. »Sintara!«, trompetete sie und war stolz, die erste der Sommerbrut zu sein, die ihren Namen verkündete.
Doch es kam nicht richtig heraus. Vielleicht hatte sie nicht tief genug Luft geholt. Ein weiteres Mal warf sie den Kopf zurück und füllte ihre Lungen. »Sintara!«, posaunte sie hinaus und dabei richtete sie sich auf den Hinterläufen auf, reckte den Oberkörper und breitete die Schwingen aus.
Drachen tragen die Erinnerungen all ihrer Vorfahren in sich. Nicht immer sind diese im Vordergrund ihres Bewusstseins, aber sie können an die Oberfläche gelangen, wenn der Drache entweder absichtlich nach ihnen sucht, oder sie werden unbemerkt hochgeschwemmt, wenn es die Umstände erfordern. Vielleicht war das, was nun geschah, deshalb so schrecklich. Kaum hatte sie sich vom Boden gelöst, war sie schon in Schieflage, denn einer
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