Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
wenn er eine richtige und angemessene Frau an seiner Seite hatte, die liebreizend über seine törichte Werbung vor ihrer Zeit lachte. Alise bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. Zu einem freundlichen Lächeln war sie nicht imstande, soviel war klar. Gemessenen Schrittes ging sie zum Stuhl zurück. Dann setzte sie sich und griff nach der Tasse mit dem erkalteten Tee. »Seid Ihr sicher, dass ich Euch nicht noch einmal einschenken soll?«
»Absolut sicher«, gab er brüsk zurück. Dieses Untier. Er ließ einfach nicht zu, dass sie sich in höfliche Plaudereien flüchtete. Um die Wut zu übertünchen, die in ihr aufstieg, trank sie einen Schluck.
Er rutschte auf seinem Stuhl, um hinter sich einen Lederbeutel hervorzuziehen. »Ich kenne jemanden in der Regenwildnis. Er ist Kapitän eines Lebensschiffs und fährt oft den Fluss hinauf. Ihr habt bestimmt von den Ausgrabungen in Cassarick gehört. Als man dort die verschüttete Stadt entdeckte, war man zunächst begeistert. Man glaubte, dort wäre es genauso wie in Trehaug, dass man meilenlange Tunnel ausgraben und unzählige Kammern voller Schätze finden würde. Doch von dem Unglück, das die Städte der Elderlinge heimgesucht hatte, wurde Cassarick um einiges härter getroffen. Die Kammern waren nicht mit Sand oder Schlamm gefüllt, sondern eingestürzt. Und bisher hat man kaum etwas gefunden, das noch heil war. Nur ein paar wenige Gegenstände.«
Er öffnete den Beutel, auf den sie während seiner kurzen Einleitung ihre ganze Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Trehaug war die wichtigste Stadt der Regenwildnis, hoch in den Bäumen des Sumpflandes erbaut. Unter ihr hatten die Regenwildhändler jedoch eine alte, vergrabene Elderlingsstadt gefunden. Da es in Cassarick, nahe der Reifegründe der Seeschlangen, ähnliche Hügel gab, hatte man sich auch dort eine verschüttete Stadt voller Schätze erhofft. Doch seit die Entdeckung der Ruinen voller Stolz bekannt gegeben worden war, hatte man kaum mehr etwas darüber gehört. Das überraschte niemanden, denn die Regenwildhändler waren wortkarg und offenbarten ihre Geheimnisse nicht einmal ihren Verwandten aus Bingtown. Hests Nachrichten machten Alise traurig. Sie hatte davon geträumt, dass man eine Bibliothek oder wenigstens eine Truhe mit Schriftrollen und Kunstwerken finden würde. In ihren Träumen war sie nach dem Schlüpfen der Drachen noch einige Zeit dortgeblieben, und sie hatte sich vorgestellt, wie sie sagen würde: »Nun denn, ich habe alle Schriften aus Trehaug studiert, derer ich habhaft werden konnte. Und wenn ich diese Rollen auch nicht vollständig übersetzen kann, so kenne ich doch einige Worte. Gebt mir sechs Monate, und vielleicht finde ich etwas für euch heraus.« Alle Welt wäre von ihrem Wissen verblüfft und ihr dankbar gewesen. Die Regenwildhändler hätten ihren Wert erkannt. Eine übersetzte Rolle war hundertmal kostbarer als eine unentschlüsselte, nicht nur was den geistigen, sondern auch was den Handelswert anging. Danach wäre Alise in der Regenwildnis geblieben, wo man sie gefeiert hätte. So hatte sie es sich immer und immer wieder ausgemalt, wenn sie nachts in ihrem dunklen Zimmer gelegen hatte. Hier im Salon, an einem Sommernachmittag verblasste ihr Traum zu einem kindischen Hirngespinst. Das alles war nur eitles Wunschdenken, wurde ihr erneut bewusst.
»Wie schade«, brachte sie in angemessenem Tonfall heraus. »Es gab doch so große Hoffnungen, als die ersten Gerüchte über eine zweite verschollene Stadt auftauchten.«
Er nickte und beugte den Kopf mit dem dunklen Haarschopf über die Schnalle des Ranzens. Sie sah ihm zu, wie er den Lederriemen aus der Schnalle zog. »Immerhin haben sie eine Kammer mit Schriftrollen und solchen Sachen gefunden. Die untere Hälfte der Kammer war mit Schlamm verschüttet. Wie man mir sagte, hat man versucht, intakte Rollen zu bergen, aber das Flusswasser kann ziemlich ätzend sein. Allerdings stand ein großer Schrank in der Kammer, und auf einem höheren Schrankboden waren sechs Schriftrollen hinter Glas geschützt. Sie befanden sich in fest verschlossenen Röhren, die wahrscheinlich aus Horn gefertigt waren. Völlig erhalten waren sie zwar nicht mehr, aber immerhin hatten sie überlebt. Zwei davon schienen Schiffspläne zu enthalten. Auf einer sah man Bilder von Pflanzen. Dann gab es noch zwei, die vielleicht Gebäudegrundrisse darstellen sollten, und schließlich diese hier. Die ist für Euch.«
Alise war sprachlos. Er hatte einen dicken
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