Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
nur war Alise so unvorsichtig gewesen, diesen Gedanken auszusprechen?
Hest beugte sich vor. »Ihr würdet lieber dieses Schauspiel miterleben, als an meinem Arm zum Sommerball zu gehen?«
Es war eine direkte Frage, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass diese eine ebenso direkte Antwort verdiente. Sie hatte geglaubt, ihr Schicksal akzeptiert zu haben, doch nun flammte ein letzter Funken Bedauern auf und wurde zu Widerstand. »Ja. Ja, das würde ich lieber tun. Das war meine Absicht, als ich die Passage flussaufwärts auf einem Lebensschiff gekauft habe. Wenn Ihr und der Sommerball nicht gewesen wärt, wäre ich jetzt dort, würde Skizzen anfertigen und mir Notizen machen, würde die ersten Laute der Drachen hören und zusehen, wie Tintaglia sie aus ihren Hüllen befreit und auf ihrem Weg in die Lüfte begleitet. Ich würde Zeugin davon werden, wie die Drachen in die Welt zurückkehren.«
Einige Zeit betrachtete er sie schweigend und aufmerksam. Sie spürte, wie sich ihre Wangen mit einem tieferen Rot färbten. Nun denn, schließlich hatte er gefragt. Wenn er die Antwort nicht hören wollte, hätte er nicht fragen dürfen. Hest faltete die Hände und sah auf sie hinab. Sicher würde er gleich aufstehen und gekränkt hinausmarschieren. Und es wäre doch wahrlich eine Erleichterung, wenn diese Farce einer Werbung endlich ein Ende nehmen würde. Nur, wieso schnürte sich ihre Kehle zu, und warum brannten Tränen in ihren Augen? Als er seine abschließende Frage stellte, hielt er den Blick auf seine Hände gerichtet: »Darf ich so kühn sein zu hoffen, dass Eure Verdrossenheit und kühle Ablehnung der letzten Wochen von der Enttäuschung über die verpasste Reise herrührt, und ihren Grund nicht in der Enttäuschung über mich als Euren Verehrer hat?«
Die Frage kam so unvermittelt, dass sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Wieder ruhte sein Blick unverblümt und forschend auf ihr. Er hatte lange Wimpern und makellos geschwungene Augenbrauen. »Nun?«, drängte er, und da fiel ihr seine Frage plötzlich wieder ein, und sie sah weg. »Ich war sehr enttäuscht, dass ich nicht gehen konnte«, begann sie etwas heiser. Dann aber verbesserte sie sich: »Ich bin sehr enttäuscht, dass ich nicht dort sein kann. Nicht nur, dass so etwas nur einmal in einem Menschenleben passiert, sondern es wird überhaupt nie wieder passieren! Oh, natürlich kann es sein, dass dereinst wieder Drachen schlüpfen – ich hoffe, dass wieder welche schlüpfen, aber nicht so wie dieses Mal. Nicht wie das erste Schlüpfen nach mehreren Generationen, in denen es keine Drachen gab!« Sie stellte die Tasse mit dem fürchterlichen Minztee so abrupt auf die Untertasse, dass es klapperte. Dann fuhr sie auf und ging zum Fenster. Alise blickte auf Mutters geliebte Rosen hinaus, ohne etwas wahrzunehmen.
»Ganz sicher sind jetzt andere dort. Und sie werden aus erster Hand skizzieren und aufschreiben, was sie sehen. Ihr Wissen müssen sie dann nicht mehr aus moderigen Fetzen von Rinderhaut ziehen, mit verblichenen Buchstaben in einer Sprache, die keiner mehr versteht. Sie können alles vor Ort studieren und werden hinterher als Gelehrte gefeiert. Ruhm und Anerkennung gehen dann allein an sie, und all meine Studien, meine jahrelangen Entzifferungsversuche werden umsonst sein. Niemand wird mich dann noch für eine Drachengelehrte halten. Vielmehr werde ich als schrulliges altes Weib gelten, das über seinen schäbigen Schriftrollen brütet und vor sich hinmurmelt. Ungefähr so wie Mamas Tante Jorinda, die kistenweise Venusmuscheln derselben Größe und Farbe gesammelt hat.«
Sie geriet ins Stocken und war entsetzt, dass sie ein solches Detail ihrer Familie ausgeplaudert hatte. Dann biss sie fest die Zähne zusammen. Was kümmerte es sie schon, was er dachte? Ihm würde ohnehin früher oder später klar werden, dass sie keine passende Braut für ihn war, und er würde seine Werbung aufgeben. Er würde so lange mit ihr herumtändeln, bis ihre letzte Gelegenheit verflossen war, etwas anderes zu werden als eine alte Jungfer, die von den Almosen ihres Bruders lebte. Die Welt draußen sonnte sich in einem Sommer, der für jedermann voller Verheißungen war, nur nicht für sie selbst. Für sie war es die Jahreszeit verpasster Gelegenheiten.
Hinter ihr stieß Hest einen tiefen Seufzer aus. Dann holte er hörbar Luft und sagte: »Ich … Nun ja, das tut mir leid. Ich wusste sehr wohl von Eurem Interesse an Drachen. Ihr habt mir ja selbst davon erzählt an
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