Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
einfach nur schön. Gleich darauf rief sie sich die Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein: Er war viel zu schön, um sich für sie zu interessieren.
Sobald sie sich gesetzt hatte, nahm auch er wieder Platz. Ihre Mutter nuschelte eine Entschuldigung, die keiner von beiden beachtete. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die beiden allein zu lassen, wann immer es die Schicklichkeit erlaubte. Alise musste schmunzeln. Was auch immer ihre Mutter sich ausmalte, es war sicher ungleich interessanter als die in Wahrheit eher ruhige und langweilige Unterhaltung der beiden, wenn sie allein waren. »Darf ich Ihnen noch etwas Tee anbieten?«, fragte sie höflich, und als er ablehnte, schenkte sie sich selbst ein. Minze. Wieso hatte ihre Mutter Minze gewählt, wo sie doch wusste, dass Alise sie nicht mochte? Als er seine Tasse zum Mund hob, um einen Schluck zu trinken, erkannte sie, weshalb. Damit sie einen frischen Atem hatte, falls es Hest einfallen sollte, ihr einen Kuss zu rauben.
Versehentlich stieß sie ein unterdrücktes, skeptisches Schnauben aus. Dieser Mann hatte kein einziges Mal versucht, auch nur ihre Hand zu ergreifen. Er machte ihr zwar den Hof, doch unterließ er dabei auf fast schon schmerzhafte Weise jede romantische Annäherung.
Unvermittelt stellte Hest seine Tasse auf der Untertasse ab, sodass es leise klirrte. Alise war überrascht, dass er sie beinahe herausfordernd anblickte. »Ihr amüsiert Euch über etwas. Etwa über mich?«
»Nein! Nein, keinesfalls. Das heißt, nun ja, Ihr könnt natürlich sehr amüsant sein, wenn Ihr wollt, aber ich habe nicht wegen Euch gelacht. Ganz sicher nicht.« Sie nippte an ihrem Tee.
»Ganz sicher nicht«, wiederholte er, doch war deutlich herauszuhören, dass er an ihren Worten zweifelte. Seine Stimme war tief und sonor, so tief, dass man ihn zuweilen kaum verstand, wenn er leise sprach. Im Moment sprach er allerdings nicht leise. »Denn Ihr habt noch nie gelacht. Oder mir auch nur ein Lächeln geschenkt. Freilich zieht ihr Eure Mundwinkel hoch, wenn der Anstand ein Lächeln gebietet, aber es ist nicht echt, nicht wahr, Alise?«
Damit hatte sie nicht gerechnet. War dies ein Streit? Sie hatten noch nie eine vernünftige Unterhaltung geführt, wie sollten sie sich da streiten? Und warum schlug ihr Herz angesichts seines Missmuts auf einmal so schnell, wo sie sich doch überhaupt nicht für ihn interessierte. Sie wurde rot und konnte die Hitze in ihren Wangen spüren. Wie dumm. Für ein sechzehnjähriges Mädchen wäre das angemessen gewesen, aber für eine junge Frau von einundzwanzig Jahren schickte sich dergleichen nicht mehr. Sie wollte ganz offen sprechen, brachte die Worte aber nicht richtig heraus. »Ich habe immer versucht, höflich zu Euch zu sein … Nun ja, ich bin jederzeit zu allen Leuten höflich. Ich bin eben kein kicherndes Mädchen, das bei jedem Eurer Scherze affektiert lächelt und einfältig grinst.« Plötzlich fielen ihr die rechten Worte ein, und sie bemühte sich, wieder Boden zu gewinnen. »Mein Herr, ich glaube nicht, dass Ihr irgendeinen Grund habt, Euch über mein Betragen Euch gegenüber zu beklagen.«
»Aber auch keinen Grund, darüber zu jubilieren«, gab er leichthin zurück. Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück. »Alise, ich muss Euch etwas gestehen. Ich höre allerlei Gerede. Oder ich sollte wohl sagen: Sedric, der in meinen Diensten steht, hat ein außerordentliches Talent, jedes Gerücht aufzuschnappen, das in Bingtown umgeht, und auch nicht den Hauch eines Skandals zu verpassen. Und von ihm erfahre ich, dass Ihr nicht glücklich darüber seid, dass ich Euch meine Aufwartung mache, und dass Ihr mich nur ungern zum Sommerball begleiten wollt. Laut Sedrics Berichten wärt Ihr im Moment lieber in der Regenwildnis und würdet zusehen, wie aus Seeschlangeneiern Drachen schlüpfen.«
»Die Schlangen schlüpfen aus Dracheneiern«, verbesserte sie ihn, bevor sie an sich halten konnte. »Die Schlangen weben Hüllen, die manche Leute auch ›Kokons‹ nennen. Daraus schlüpfen im Frühjahr dann vollständig ausgeformte Drachen.« Ihr Geist arbeitete fieberhaft. Was hatte sie gesagt, und zu wem? Wie hatte er von ihren Plänen erfahren? Ach ja, ihre Schwägerin. Die hatte sie wegen des vergeudeten Geldes für die Fahrkarten bemitleidet, und unvorsichtigerweise hatte Alise ihr gegenüber geäußert, dass sie lieber auf die Reise denn zum Ball gehen würde. Weshalb um alles in der Welt hatte diese blöde Kuh das weitererzählt? Und weshalb
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