Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
dem Abend, als wir zum ersten Mal miteinander getanzt haben. Und ich habe das durchaus ernst genommen, Alise, wirklich. Allerdings habe ich verkannt, was es Euch bedeutet, diese Kreaturen vor Ort zu studieren. Ich muss gestehen, dass ich tatsächlich glaubte, es handle sich lediglich um eine Schrulle, etwas, womit Ihr Euch die Zeit vertreibt. Und, ähm, ich hatte gehofft, dass ich bald eure Zeit in Anspruch nehmen dürfte.«
Gefangen zwischen Staunen und Schrecken lauschte sie seinen Worten. Eigentlich hatte sie sich gewünscht, dass jemand anerkennen würde, dass die Studien mehr als nur ein Zeitvertreib für sie waren. Nun tat er genau das, und jetzt war es ihr peinlich, dass er wusste, wie ernst sie es damit meinte. Auf einmal sah sie darin eine törichte, ja sogar verrückte fixe Idee und kein berechtigtes Gelehrteninteresse mehr. War das überhaupt besser, als wenn man wie eine Besessene Venusmuscheln sammelte? Was hatte sie schon mit Drachen am Hut? Waren sie nicht lediglich ein Vorwand, sich nicht dem Leben zu stellen, das das Schicksal ihr beschieden hatte? Ihr wurde erst heiß, dann wurde ihr schummrig. Wie hatte sie sich nur jemals einbilden können, dass jemand sie für eine Drachenexpertin hielt? Wie dumm sie in seinen Augen erscheinen musste.
Sie hatte sich weder zu ihm umgewandt noch hatte sie ihm etwas erwidert. Da hörte sie wieder ein Seufzen. »Ich hätte wissen sollen, dass Ihr keine eitle Dilettantin seid, die nur darauf wartet, dass jemand erscheint und ihrem Leben Sinn und Ziel gibt. Alise, dafür entschuldige ich mich. In dieser Hinsicht habe mich Euch gegenüber schlecht verhalten. Obschon meine Absichten gut waren, zumindest glaubte ich das. Nun muss ich erkennen, dass ich völlig eigennützig gehandelt und versucht habe, Euch den von mir erkorenen Platz in meinem Leben zuzuweisen. Genau dieselbe Behandlung ist mir von meiner eigenen Familie widerfahren, deshalb weiß ich sehr wohl, was es bedeutet, wenn ein anderer jemandes Träume mit Füßen tritt.«
In seinem Ton schwang so viel Empfindung, dass sie sich schämte. »Bitte«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Bitte, nehmt es Euch nicht zu Herzen. Das war nur eine eitle Grille, ein Traumgespinst, das zu wild gewuchert ist. Das gibt sich bald wieder.«
Er schien ihr gar nicht zuzuhören. »In dem Glauben, Euch vielleicht dazu bewegen zu können, nicht so schlecht über mich zu denken, habe ich Euch heute ein Geschenk mitgebracht. Nun fürchte ich aber, dass es Euch angesichts Eurer Träume wie Hohn erscheinen muss. Dennoch bitte ich Euch, es als kleine Wiedergutmachung anzunehmen für das, was Ihr versäumt habt.«
Ein Geschenk. Das war das Letzte, was sie von ihm wollte. Er hatte ihr zuvor schon Geschenke mitgebracht, ein Spitzenhalstuch, eine kleine Glasviole mit edlem Parfüm, ausgefallene Bonbons vom Markt und einen Armreif aus kleinen Perlen. All diese Geschenke waren umso kostbarer, da er sie in Kriegszeiten besorgt hatte. Man schenkte sie jungen Mädchen, weshalb Alise, die schon fast eine alte Jungfer war, sich von ihnen verspottet gefühlt hatte. Endlich war sie wieder Herrin ihrer Zunge, sodass sie die richtigen Worte fand. »Ihr seid zu gütig zu mir.« Wenn er doch nur verstünde, dass sie jedes Wort genau so meinte.
»Bitte kommt zurück und setzt Euch, damit ich es Euch geben kann. Ich fürchte, Ihr werdet es weniger süß als bitter finden.«
Alise wandte sich vom Fenster ab. Nachdem sie in den hellen Tag hinausgestarrt hatte, war das Zimmer dunkel und abweisend. Bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, blieb Hest im düsteren Salon ein Schatten. Sie wollte sich nicht in seine Nähe setzen, wollte nicht Gefahr laufen, dass er an ihrem Gesicht ihre wahren Empfindungen ablesen konnte. Ihre Stimme konnte sie beherrschen, doch ihre Augen gaben die Wahrheit leichter preis. Sie holte tief Luft. Immerhin hatte sie nicht geweint, keine einzige Träne. Zumindest darauf konnte sie stolz sein. Und der Mann, der mit ihr im Salon saß, war womöglich der einzige andere Weg, den das Schicksal ihr jetzt noch bereithielt. Aber sie glaubte ihm nicht, sie konnte ihm nicht glauben.
Für den Moment jedoch musste sie den Gepflogenheiten der Gesellschaft folgen und wenigstens den Schein wahren. Schlimmer als bisher konnte sie sich ohnehin nicht mehr blamieren. Sie stellte sich vor, dass alles, was sie jetzt tun oder sagen würde, einst zu einer vergnüglichen Geschichte werden würde, die er Jahre später beim Abendessen erzählen würde,
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