Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
die Augen und entspannte die Lippen. In diesem Moment sollte er das Sagen haben. Sie spürte seinen Atem, als sein Mund über ihrem schwebte. Dann küsste er sie, nur eine flüchtige Berührung auf ihren Lippen. Als hätten sie die Schwingen eines Kolibris gestreift.
Ein Schauer durchlief sie, und sie schnappte nach Luft, als er einen Schritt von ihr zurücktrat. Ihr Herz pochte wild. Er neckt mich, dachte sie und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er sah ihr zwar nicht in die Augen, aber sein Mund war zu einem listigen Schmunzeln verzogen. Was für ein gemeiner Mensch. Er brachte sie noch so weit sich einzugestehen, dass ihr Verlangen nicht geringer war als das seine. Lass es Nacht werden, dachte sie und sah verstohlen zur Seite – auf das Gesicht ihres Gatten.
»Dann erzähl mal von ihr«, forderte ihn Leftrin auf, nachdem sie lange Zeit geschwiegen hatten.
Mit einem Seufzen sah Swarge zu ihm auf und lächelte. Sein Gesicht war dadurch wie verwandelt. Etliche Jahre seines Lebens schienen vom ihm abzufallen, und das Funkeln in seinen blauen Augen verlor seine Kälte. »Sie heißt Bellin. Sie ist … na ja, sie mag mich. Sie spielt Flöte. Vor ein paar Jahren haben wir uns in einer Taverne in Trehaug kennengelernt. Jonas Spelunke, du weißt schon.«
»Ja, die kenne ich. Dort treibt sich Flussvolk herum.« Er neigte den Kopf zur Seite und musterte seinen Steuermann. Er scheute sich, ihm die Frage zu stellen, die ihm auf den Lippen lag. Die meisten Frauen, die er in Jonas Spelunke getroffen hatte, waren Huren. Von denen waren manche durchaus nett, aber viele würden ihr Gewerbe nicht wegen eines Ehemannes aufgeben. Deshalb fragte er sich, ob Swarge in der Hinsicht etwas auf den Kopf gefallen und hinters Licht geführt worden war. Beinahe hätte er ihn gefragt, ob er ihr Geld gegeben hatte, um für ein gemeinsames Haus zu sparen. Oft genug hatte Leftrin erlebt, wie leichtgläubige Bootsleute auf solche Tricks hereingefallen waren.
Doch bevor er zu sprechen anheben konnte, hatte der Steuermann ihm die Zweifel am Gesicht abgelesen. »Bellin gehört zum Flussvolk. Sie war dort zusammen mit ihrer Mannschaft, um was zu trinken und was Warmes zu essen. Sie arbeitet auf dem kleinen Nachen, der Sacha , die zwischen Trehaug und Cassarick hin und her fährt.«
»Als was arbeitet sie dort?«
»Matrosin. Deshalb ist es so schwer für uns. Wenn ich im Hafen bin, ist sie unterwegs, und wenn sie im Hafen ist, bin ich fort.«
»Das wird sich auch nicht ändern, wenn du sie heiratest«, gab Leftrin zu bedenken.
Swarge starrte auf die Tischplatte. »Letztes Mal, als Bellin und ich gemeinsam an Land waren, hat mir ihr Käpt’n Arbeit auf der Sacha angeboten. Hat gemeint, dass er mich zum Steuermann machen würde, wenn ich das Schiff wechseln wollte.«
Nach einigen Augenblicken löste Leftrin die Hände und sprach mit beherrschter Stimme: »Und du hast Ja gesagt? Ohne mir Bescheid zu geben, dass du gehen willst?«
Swarge trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, und ohne auf ein entsprechendes Angebot zu warten, schenkte er noch einmal Rum aus. »Ich hab nichts gesagt«, brummte er, nachdem er sein Glas geleert hatte. »Wie du schon gemeint hast, ich bin jetzt über zehn Jahre auf Teermann . Und Teermann ist ein Lebensschiff. Mir ist schon klar, dass wir keine Familie sind, aber da ist trotzdem eine gewisse Verbindung. Ich mag das Gefühl, wenn Teermann auf dem Wasser ist. Zum Beispiel der kleine Schauer, der mich immer durchläuft, kurz bevor ich dann eine gefährliche Stelle im Fluss entdecke. Sacha ist ein netter kleiner Nachen, aber im Grunde bloß ein Stück Holz, das auf dem Wasser schwimmt. Würde mir schwerfallen, Teermann dafür aufzugeben. Aber …«
»Aber für eine Frau würdest du es tun«, sagte Leftrin schwermütig.
»Wir würden gern heiraten. Kinder bekommen, wenn’s geht. Du hast es selbst gesagt, Käpt’n. Zehn Jahre sind das halbe Leben für einen Regenwildmann. Ich werde nicht jünger, und Bellin genauso wenig. Wenn wir es tun wollen, dann müssen wir es bald tun.«
Leftrin schwieg und wog seine Möglichkeiten ab. Er konnte Swarge nicht ziehen lassen. Nicht jetzt. In nächster Zeit würde es auf dem Lebensschiff ohnehin seltsam zugehen, auch ohne dass sich Teermann an einen neuen Steuermann gewöhnen musste. Konnte er noch jemanden zusätzlich anheuern? Da waren Hennesey, der auf Deck das Kommando hatte und eine der Stocherstangen bemannte, den dürren kleinen Skelly, den großen Eider und
Weitere Kostenlose Bücher