Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
schroff zu wissen. »Sollen wir die Bäume niederwerfen, die uns einzäunen? Menschen vermögen zwischen ihren Stämmen hindurchzuschlüpfen und Pfade durch den Sumpf zu finden. Doch falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Wir sind ein bisschen größer als Menschen. Gresok ist fortgegangen, aber nicht dorthin, wohin er wollte, sondern wo er zwischen den Bäumen hindurchkam. Richtung Wald gibt es kein Entkommen, nur Sumpf, Dunkelheit und Hungertod. Wir sind vollkommen ausgezehrt. Die Menschen bringen uns wenigstens jeden Tag etwas zu fressen. Wenn wir von hier fortgehen, verhungern wir.«
»Wir brauchen nicht zu verhungern. Wir können die Menschen fressen«, schlug jemand am Rand der Herde vor.
»Sei still, wenn du nur Unsinn redest«, herrschte Sestican den Drachen an. »Wenn wir die Menschen fressen, bleiben wir dennoch hier gefangen und bekommen kein Futter mehr.«
»Sie wollen, dass wir gehen«, sagte Kalo so plötzlich, dass alle zusammenfuhren.
»Wer will das?«, fragte Mercor.
»Die Menschen. Ihr Regenwildkonzil hat einen Mann ausgesandt, um zu verhandeln. Einer der Fütterer hat mich gebeten, mit ihm zu reden. Dem Mann vom Konzil hat er erzählt, dass ich der größte Drache und damit der Anführer sei. So hat er es mir jedenfalls gesagt. Er wollte wissen, ob ich weiß, wann und ob Tintaglia zurückkehrt. Darauf habe ich ihm gesagt, dass ich es nicht weiß. Dann meinte er, dass sie furchtbar aufgebracht wären, weil jemand einen Leichnam von ihnen aus dem Fluss gefischt und gefressen hat. Und weil einer von ihnen von einem Drachen in einen Tunnel verfolgt wurde, der in die verschüttete Stadt führt. Und der Mann sagte, dass sie nicht mehr wüssten, wie sie uns durchfüttern sollen. Anscheinend haben seine Jäger im Umkreis von Meilen alles Großwild erlegt, und die Fischwanderungen sind für dieses Jahr auch fast vorbei. Er sagte, dass sie möchten, dass wir Tintaglia rufen, um sie wissen zu lassen, dass das Konzil nach ihrer Rückkehr verlangt und dass sie helfen soll, diese Missstände zu beheben.«
Im Dunkeln hörte Sintara, wie einige Drachen verächtlich über diesen Unsinn schnaubten.
Auch Mercors Stimme troff vor Geringschätzung. »Tintaglia rufen. Als ob sie unserem Ruf folgen würde. Kalo, warum hast du uns das nicht früher erzählt?«
»Sie haben mir nichts gesagt, was nicht ein jeder von uns schon wüsste. Weshalb soll man sich die Mühe machen, das zu wiederholen? Die Menschen sind diejenigen, die sich nicht mit dem abfinden wollen, was sie bereits wissen. Tintaglia wird nicht zurückkommen«, bekräftigte Kalo voller Bitterkeit. »Welchen Grund hätte sie dafür? Sie hat einen Partner gefunden. Zusammen sind sie frei, zu jagen und zu fliegen, wohin sie wollen. In ein oder zwei Jahrzehnten, wenn ihre Zeit reif ist, wird sie Eier legen, aus denen eine neue Generation Seeschlangen schlüpfen wird. Uns braucht sie nicht mehr. Sie hat nur geholfen, uns am Leben zu halten, weil wir ihre letzte Hoffnung waren. Und jetzt sind wir es nicht mehr. Hätte Tintaglia einen Partner gehabt, als wir aus unseren Hüllen gekrochen sind, wäre sie uns nur mit Abscheu begegnet. Sie weiß so gut wie wir, dass wir nicht zum Leben taugen.«
»Aber wir leben doch!«, unterbrach ihn Mercor verärgert. »Und wir sind Drachen. Keine Sklaven, keine Schoßtiere. Und auch kein Vieh, das von Menschen geschlachtet und an den Höchstbietenden verkauft werden kann.«
Sestican stellte die kleinen Zacken im Nacken auf. »Wer wagt es, so etwas überhaupt zu denken!«
»Oh, lasst uns nicht auch noch Narren sein, wo wir schon Krüppel sind«, erwiderte Mercor. »Es gibt genug Menschen, die uns nicht verstehen, wenn wir zu ihnen sprechen. Und viele von ihnen sehen in uns kaum mehr als Tiere, und dazu noch schädliche Tiere. Ich habe sie belauscht. Unter den Menschen gibt es welche, die unser Fleisch, unsere Schuppen, unsere Zähne, jedwedes unserer Körperglieder kaufen würden, um es für ihre Tränke und Elixiere zu verwenden. Was glaubt ihr, was mit dem armen Toren Gresok passiert ist? Kalo und Ranculos wissen es, auch wenn Kalo so tut, als wisse er von nichts. Menschen haben ihn getötet, um ihn nach wertvollen Zutaten auszuschlachten. Sie ahnten nicht, dass wir seinen Tod spüren würden. Wie viele von ihnen waren dort, Kalo? Genug, dass es auch noch für eine gute Mahlzeit gereicht hat, nachdem du Gresok verschlungen hast?«
»Es waren drei«, meldete sich Ranculos zu Wort. »Drei haben wir erwischt, ein vierter
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