Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
der immer noch von dir träumt, Kelsingra!«
»Ich möchte Kelsingra wiedersehen. Ich möchte meine Flügel ausbreiten und wieder fliegen können«, ertönte eine Stimme irgendwo aus der Nacht.
»Schwingen. Fliegen! Fliegen!« Die Worte waren undeutlich gesprochen und gedämpft, doch die Sehnsucht in der Stimme des geistig zurückgebliebenen Drachen verlieh ihnen Innigkeit.
»Kelsingra«, stöhnte ein anderer.
Sintara senkte den Kopf und steckte ihn in eine Falte an ihrer Brust. Sie schämte sich wegen der anderen und wegen sich selbst. Sie benahmen sich wie eingepferchte Rinder, die vor der Schlachtung zu brüllen anfangen. »Dann geht doch hin«, murmelte sie angewidert. »Haut einfach ab und geht hin.«
»Wenn wir nur könnten«, sagte Mercor mit aufrichtiger Sehnsucht. »Doch der Weg ist weit. Selbst wenn wir Flügel hätten, uns zu tragen. Und der Pfad ist trügerisch. Als Seeschlangen haben wir kaum den Weg nach Hause gefunden. Um wie viel unkenntlicher muss das Land sein, das zwischen uns und dem Ort liegt, an dem sich Kelsingra einst befand?«
»Wo es sich einst befand«, wiederholte Kalo. »So viel war einmal und ist nicht mehr. Es hat keinen Sinn, daran zu denken oder davon zu sprechen. Ich möchte weiterschlafen.«
»Vielleicht hat es keinen Sinn, aber wir sprechen dennoch darüber. Und manche von uns träumen noch immer davon. So wie manche von uns noch vom Fliegen träumen und davon, unser eigenes Fleisch zu jagen und um einen Partner zu kämpfen. Manche von uns träumen noch vom Leben. In Wahrheit willst du nicht schlafen, Kalo, sondern sterben.«
Kalo zuckte zusammen, als hätte ihn ein Pfeil getroffen. Sintara spürte, wie sich der große Drache anspannte und wie seine Giftsäcke schlagartig anschwollen. Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie geglaubt, der Platz zwischen den beiden großen Drachenmännchen wäre ein sicherer Ort. Nun musste sie feststellen, dass sie sich genau im Brennpunkt des Ärgers befand, gefangen zwischen Sestican und Mercor. Kalo reckte den Kopf in die Höhe und sah auf Mercor herab. Wenn er jetzt Gift spucken würde, wäre Mercor ihm schutzlos ausgeliefert. Und auch Sintara würde davon etwas abbekommen. Vergeblich zog sie die Schultern hoch.
Doch anstatt Gift zu spritzen, erhob Kalo das Wort. »Sprich nicht mit mir, Mercor. Du hast keine Ahnung, was ich denke oder empfinde.«
»Nicht? Ich weiß mehr über dich, als deine eigene Erinnerung hergibt, Kalo.« Unvermittelt warf Mercor den Kopf zurück und brüllte: »Ich kenne euch alle! Jeden von euch! Und ich beklage, was ihr seid, denn ich weiß, was ihr wart, und ich weiß, was ihr sein solltet!«
»Ruhe! Wir versuchen, zu schlafen!« Dies war nicht das Donnern eines empörten Drachen, sondern der schrille Schrei eines entnervten Menschen. Kalo wandte den Kopf zur Quelle des Geräuschs und stieß ein zorniges Brüllen aus. Plötzlich taten Sestican, Ranculos und Mercor es ihm gleich, und als ihr Brüllen erstarb, ahmten es einige der beschränkten Drachen am Rand der Herde nach.
»Schweigt!«, trompetete Kalo in Richtung der menschlichen Behausungen. »Drachen sprechen, wenn sie es wünschen! Ihr könnt uns nicht beherrschen!«
»Ach, aber das tun sie«, sagte Mercor leise, und sein sanfter Tonfall ließ die anderen aufhorchen.
Kalos Kopf fuhr zu ihm herum. »Dich vielleicht. Dich beherrschen die Menschen. Mich nicht.«
»Dann frisst du etwa nicht, wenn sie dich füttern? Dann harrst du etwa nicht hier aus, wo sie uns zusammenpferchen? Fügst du dich etwa nicht dem Plan, den sie für uns haben? Dass wir hierbleiben und von ihnen abhängig bleiben sollen, bis wir allmählich verrecken und ihnen nicht mehr zur Last fallen?«
Gegen ihren Willen war Sintara von seinen Worten gefesselt, denn sie waren gleichsam erschreckend und provozierend. Als er zu sprechen aufhörte, wehten die leiseren Abendgeräusche heran. Sie lauschte dem Fluss, wie er gegen das Ufer plätscherte, den Menschen und Vögeln, die sich für die Nacht in den Bäumen niederließen, und dem Atmen der Drachen. »Was sollen wir denn sonst tun?«, hörte sie sich fragen.
Alle Köpfe drehten sich zu ihr. Doch ihr Blick war einzig auf Mercor gerichtet. Die Nacht hatte seine Schuppen ihrer Farbe beraubt, aber sie erkannte deutlich die funkelnden schwarzen Augen. »Wir sollten fortgehen«, sagte er ruhig. »Wir sollten aufbrechen und versuchen, nach Kelsingra zu gelangen. Oder irgendwohin, wo es besser ist als hier.«
»Und wie?«, verlangte Sestican
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