Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
auf einem der höchsten Bäume in Trehaug. Von hier konnte sie auf die meisten Wipfel der Stadt hinabsehen.
Sie zog die Knie unters Kinn und grübelte vor sich hin, während die Dämmerung über die Stadt und den Wald hereinbrach. Sie liebte diesen speziellen Platz in den Ästen. Wenn sie sich im richtigen Winkel etwas vorbeugte und nach oben sah, konnte sie durch eine Lücke zwischen all den sich kreuzenden Zweigen den Nachthimmel sehen, der von einer Myriade Sternen erleuchtet war. Außer ihr wusste niemand von diesem Ausblick. Er gehörte ihr ganz allein.
Eine Weile lang hatte sie ihre Ruhe. Dann aber spürte sie das leichte Beben in den Zweigen, das ihr ankündigte, dass sich jemand zu ihr auf den luftigen Aussichtspunkt gesellte. Es war nicht ihr Vater. Nein. Der Neuankömmling bewegte sich schneller. Ohne sich umzuwenden, und als ob sie ihn gesehen hätte, sagte sie: »Hallo, Tats. Was führt dich heute Abend in die Wipfel?«
Sie spürte, wie er mit den Schultern zuckte. Er stand auf dem Ast, ging aber auf allen viere, um auf dem schmalen Zweig bis zu ihr nach vorn zu kriechen. Als er bei ihr angelangt war, setzte er sich auf, indem er die Beine um den Ast schlang. »Mir war nach einem Besuch«, sagte der tätowierte Junge leise. Endlich wandte sie den Kopf und sah ihn an.
Wortlos erwiderte Tats ihren Blick. Ihr war bewusst, dass ihre Augen in letzter Zeit das blassblaue Leuchten angenommen hatten, das manche Regenwildleute auszeichnete. Nie hatte er sich dazu geäußert, und auch nicht zu ihren schwarzen Klauen. Andrerseits hatte sie auch nie nach den Tätowierungen gefragt, die sich seitlich der Nase über sein Gesicht zogen. Ganz dicht an seiner Nase erkannte sie ein Pferdesymbol, und das Bild eines Spinnennetzes nahm den Großteil seiner linken Wange ein. Damit war er als jemand gezeichnet, der in Sklaverei geboren worden war. In groben Zügen war ihr seine Geschichte bekannt. Vor sechs Jahren, als die Seeschlangen zurückgekehrt waren, hatten die Regenwildleute die Tätowierten von Bingtown eingeladen, zu ihnen auszuwandern. Viele der kürzlich befreiten Sklaven hatten kaum andere Möglichkeiten. Manche von ihnen waren Verbrecher gewesen, andere Schuldner, doch die Sklaventätowierung hatte sie alle auf dieselbe Stufe gestellt. Das Konzil der Regenwildnis hatte sie ermuntert, den Regenwildfluss hinaufzufahren, sich niederzulassen und mit den Regenwildleuten zu vermischen und ein neues Leben zu beginnen. Als Gegenleistung hatten die Tätowierten angeboten, bei der Aushebung des Flussbetts und der Becken mitzuarbeiten, die den Seeschlangen ihre Wanderung erlaubt hatten. Viele der Tätowierten waren fortan angesehene Bürger der Regenwildnis geworden. Unter den Schuldnern befanden sich häufig Handwerker, die ihre Fähigkeiten in die Regenwildnis mitbrachten.
Unglücklicherweise waren manche von ihnen aber auch Einbrecher, Mörder und Taschendiebe. Und auch diese brachten ihre Fähigkeiten mit. Trotz der Chance, ein neues Leben zu beginnen, waren viele bei altbekannten Gewohnheiten geblieben. Tats Mutter war eine von der Sorte gewesen. Zunächst hatte Thymara nur gehört, dass sie eine Diebin war. Doch dann war ein Einbruch schiefgegangen und hatte zu einem Mord geführt. Tats Mutter war geflohen, und niemand wusste, wohin, am wenigsten Tats, der gerade einmal ein Junge von zehn Jahren gewesen war. Von der Mutter im Stich gelassen, hatten ihn die anderen Tätowierten aufgezogen. Doch nach Thymaras Eindruck lebte er mal hier, mal dort, aß die Reste, die man ihm überließ, trug abgelegte Kleider und scheute keine noch so niedrige Arbeit, um ein, zwei Münzen zu verdienen. Sie und ihr Vater hatten ihn auf einem der großen Märkte kennengelernt, die an manchen Tagen nahe den Stämmen der fünf Hauptbäume in Trehaugs Innenstadt stattfanden. An diesem Tag hatten sie Vögel verkauft, und Tats hatte ihnen jeden nur erwünschten Dienst im Tausch für den kleinsten der Vögel angeboten. Er hatte seit Monaten kein Fleisch mehr gegessen. Wie immer war ihr Vater zu gutmütig gewesen. Er trug dem Jungen auf, ihre Waren zu verhökern, was er normalerweise selbst und viel besser gemacht hätte, denn er hatte eine kräftigere und melodiösere Stimme. Doch Tats war willens, ja geradezu begierig gewesen, sich seine Mahlzeit selbst zu verdienen.
Seit diesem Tag vor zwei Jahren sahen sie sich oft. Wenn ihr Vater eine Arbeit hatte, die er Tats überlassen konnte, tat er es, und der Junge war für alles dankbar, was sie
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