Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
nichts, stattdessen sagte er ruhig: »Deine Mutter ist gerade rausgekommen und hat zu uns raufgeguckt. Sie steht noch immer da und starrt mich an.« Er rutschte ein winziges Stück zurück, zog den struppigen Kopf ein und krümmte die Schultern, als ob er dadurch unsichtbar werden würde. »Sie kann mich nicht leiden, stimmt’s?«
Thymara zuckte mit den Schultern. »Im Moment kann sie vor allem mich nicht leiden. Wir hatten vorhin, na ja, eine Meinungsverschiedenheit in der Familie. Als Pa und ich vom Sammeln heimkamen, sagte meine Mutter, dass jemand ein Angebot für mich gemacht hätte. Kein Verlobungsangebot, es ging um eine Arbeit. Dann hat Pa gemeint, dass ich doch schon eine Arbeit hätte, und darauf ist sie wütend geworden und wollte nicht mehr rausrücken, um für ein Angebot es sich handelte.« Thymara legte sich mit dem Rücken auf den Ast und seufzte. Um sie her wurde es immer dunkler. In den kleinen Hängehäusern wurden Lampen entzündet. So weit ihr Auge reichte, sah sie im oberen Bereich der Stadt kleine Lichtpunkte durch das Netz aus Zweigen und Blättern schimmern. Sie drehte sich auf den Bauch und blickte nach unten. Dort, in den wohlhabenderen Bezirken der in die Bäume gebauten Stadt, brannten mehr und hellere Lichter. Die Lampenanzünder waren bei ihrer Arbeit und erleuchteten die Brücken, die die Bäume wie glitzernde Ketten miteinander verbanden. Fast jeden Abend schienen es mehr Lichter zu werden. Vor sechs Jahren war eine Flut von Tätowierten eingewandert und hatte die Bevölkerung Trehaugs und Cassaricks anschwellen lassen. Seither waren mehr und mehr Fremde gekommen. Ihr war sogar an die Ohren gedrungen, dass die kleinen Handelsposten flussabwärts angewachsen waren.
Der mit Lichtern durchsetzte Wald unter ihr war schön. Es war ihre Welt, auch wenn sie nie wirklich dazugehören würde. Durch zusammengebissene Zähne sagte sie: »Es ist nicht auszuhalten. Ich habe ohnehin kaum Möglichkeiten, und nun enthält mir meine Mutter auch noch eine vor.« Sie sah zu dem mageren Jungen auf, der mit ihr auf dem Ast saß.
Plötzlich brach Tats’ Grinsen hervor, das sein Gesicht auf eine solch verblüffende Weise veränderte. »Ich glaube, ich weiß, um welches Angebot es sich handelt.«
»Du weißt was?«
»Ich weiß, um welches Angebot es sich handelt. Denn ich habe auch davon gehört. Das war einer der Gründe, weshalb ich heute Abend hier hochgekommen bin, um dich und deinen Pa zu fragen, was ihr davon haltet. Schließlich hast du von den Drachen mehr gesehen als ich.«
Sie setzte sich so abrupt auf, dass Tats vor Schreck japste. Thymara wusste allerdings, dass sie nicht Gefahr lief, hinunterzufallen. »Was war es für ein Angebot?«, bohrte sie nach.
Sein Gesicht strahlte vor Eifer. »Nun ja, da war so ein Kerl, der auf allen Marktplätzen nahe der Stämme Zettel angeschlagen hat. Als er einen festgenagelt hat, hat er ihn mir vorgelesen. Laut dem Anschlag sucht das Konzil der Regenwildnis Arbeiter, junge, kräftige und ›ungebundene‹ Arbeiter. Das heißt, ohne Familie, meinte er.« Tats hielt plötzlich in seiner aufgeregten Erzählung inne. »Nun, aber ich vermute, das wird nicht das Angebot gewesen sein, oder? Denn du hast ja eine Familie.«
»Erzähl doch einfach«, forderte ihn Thymara schroff auf.
»Na ja, im Grunde geht es darum: Die Drachen drüben in Cassarick werden allmählich zu einem Problem. Sie haben einige böse Sachen angestellt, den Leuten Angst eingejagt und Ärger gemacht. Darum hat das Konzil beschlossen, dass sie umziehen sollen. Jetzt suchen sie nach Leuten, die auf der Reise auf die Drachen aufpassen und sie mit Futter versorgen, lauter so Sachen eben. Und die sie anderswo ansiedeln und darauf achten, dass sie nicht mehr zurückkommen.«
»Drachenhüter«, sagte Thymara leise. Sie wandte den Blick von Tats ab und versuchte sich vorzustellen, wie das wohl sein würde. Nach allem, was sie von den Drachen gesehen hatte, waren sie keine pflegeleichten Geschöpfe. »Das ist sicher keine ungefährliche Sache. Deshalb suchen sie auch nach Waisen oder Leuten ohne Familie. Damit sich niemand beschwert, wenn du von einem Drachen gefressen wirst.«
Tats blinzelte sie an. »Im Ernst?«
»Nun …«
»Thymara!« Der schrille Ruf ihrer Mutter schnitt durch die Nacht. »Es wird spät. Komm rein.«
Sie war überrascht. Nur äußerst selten nannte ihre Mutter sie in der Öffentlichkeit beim Namen oder verlangte gar nach ihrer Anwesenheit. »Wieso?«, rief sie zu ihr
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