Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
erfuhren sie sicher rascher weitere Details. Ihr Vater füllte die Waschschüssel, wusch sich die Hände und kippte das Wasser zum Fenster hinaus. Dann füllte er die Schüssel erneut und reichte sie Thymara. Dabei sagte er beiläufig: »Ich denke, wir sollten morgen einmal nicht sammeln gehen, sondern lieber losziehen, um ein paar neue Pflanzen zu besorgen. Sollen wir früh aufstehen?«
»Das wäre wohl das Klügste«, gab Thymara zögernd zurück.
Ihre Mutter ertrug es nicht, dass die beiden offenbar eine vollkommen alltägliche Unterhaltung führten. Deshalb sagte sie zu den Kuranüssen, die sie zu einer Paste verarbeitete: »Anscheinend kenne ich meine eigene Tochter nicht. Ich dachte, sie wäre begeistert, wenn sie mit den Drachen zusammenarbeiten dürfte. Als sie noch jünger war, schien sie sich für diese Biester so sehr zu interessieren.«
Ihr Vater gebot Thymara mit einer dezenten Handbewegung, still zu bleiben, damit ihre Mutter weitersprach. Doch Thymara konnte nicht an sich halten. »Mit den Drachen? Den Drachen, die ich beim Schlüpfen beobachtet habe? Den im Stich gelassenen Drachen? Mit denen würde ich arbeiten?«
Ihre Mutter stieß ein kurzes, zufriedenes Schnauben aus. »So wie es aussieht eben nicht. Denn dein Vater will, dass du hierbleibst, bis wir verschrumpeln und sterben, um danach für den Rest deines Lebens allein dahinzuvegetieren.« Damit stellte sie die Schüssel mit Kuranusspaste auf die Tischmatte und daneben eine Platte mit Rötelhalmen. Tagsüber hatte sie im Gemeinschaftsofen Fladenbrote gebacken. Es gab sechs Stück, zwei für jeden. Wenn es auch ein einfaches Mahl war, so füllte es doch die Mägen, wie ihr Vater immer sagte. So hungrig Thymara vor wenigen Sekunden noch gewesen war, vermochte sie das Essen jetzt kaum mehr anzusehen.
Doch ihr Vater hatte richtig gelegen. Anstatt die Wut der Mutter abzukühlen, hatte Thymaras Frage sie erst recht angeheizt, und nun brannte in ihr ein kalter und gerechter Zorn. Während des gesamten Essens plauderte sie lächelnd, sprach über Belanglosigkeiten, als wäre alles in Ordnung und sie das gehorsame Weib, das sich den Wünschen seines Gatten fügte. Noch zwei weitere Male fragte Thymara nach, weil sie dem Köder, den die Mutter ihr vorhielt, nicht widerstehen konnte, und jedes Mal wurde ihr entgegnet, dass Thymara ja bestimmt nicht von ihrer Familie und ihrem Zuhause fortgehen wollte, und dass sie, die Mutter, dieses dumme Thema nie wieder auf den Tisch bringen würde.
Thymara blieb nichts anderes übrig, als in ihrer brennenden Neugierde vor sich hinzuköcheln.
Sobald das Mahl beendet war, verkündete Jerup, dass er noch etwas zu tun hatte, und verabschiedete sich. Während Thymara die Reste des Essens abräumte, wich sie den bösen Blicken ihrer Mutter aus. Sobald es ihr möglich war, ging sie hinaus und ließ auch die kleinen Stege zurück, die ihr Haus mit denen der Nachbarn verbanden. Sie kletterte weiter hinauf ins Blätterdach der Bäume, denn sie musste nachdenken. Und das konnte sie am besten, wenn sie allein war. Drachen. Was mochten Drachen nur mit dem Angebot zu tun haben, das man ihr machte?
Bereits zweimal hatte Thymara die Drachen gesehen. Das erste Mal vor fünf Jahren, als Thymara schon fast elf Jahre alt gewesen war. Damals hatte ihr Vater sie den Stamm hinuntergeführt, über die Halskettenbrücke und immer weiter hinunter bis zum Waldboden. Der Pfad, der zu den Reifegründen führte, war von unzähligen Füßen ausgetreten gewesen. Dies war Thymaras erster Besuch in Cassarick gewesen.
Noch immer verfolgten sie die Erinnerungen an das Schlüpfen der Drachen. Die Schwingen der Kreaturen waren verkümmert gewesen, und sie hatten kaum Fleisch und Kraft auf den Knochen gehabt. Tintaglia war immer wieder ausgeflogen und mit frischem Fleisch wiedergekehrt, um sie zu füttern, und Thymaras Vater hatte Mitleid mit den missgestalteten Geschöpfen empfunden. Ein bitteres Lächeln verzog ihre Mundwinkel, wenn sie sich an die kläglichen Flugversuche eines der frisch Geschlüpften zurückerinnerte.
In den ersten Tagen nach dem Schlüpfen hatte man gehofft, dass die überlebenden Drachen wachsen und gedeihen würden. Eine Zeit lang hatte ihr Vater Arbeit bei den Jägern gefunden, die helfen sollten, die Drachen zu füttern. Doch die so dicht bewaldete Regenwildnis vermochte die großen und gefräßigen Fleischfresser nicht lange zu ernähren. Trotz aller Anstrengungen konnten die Jäger nicht mehr Wild erlegen, als das Land
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