Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Klauen hat, wissen die Eltern und die Hebamme, was zu tun ist. Und sie tun es.«
Er rutschte auf dem Ast näher an sie heran. »Sie tun was?«, fragte er heiser.
Sie wich seinem forschenden Blick aus und sah zu dem Geflecht aus sich kreuzenden Ästen, das den Nachthimmel überzog. »Ihn loswerden. Sie bringen den Säugling an einen Ort, wo keine Leute hingehen. Sie setzen ihn aus.«
»Sodass er stirbt?« Er war entsetzt.
»Genau, damit er stirbt. Oder von irgendeinem Tier gefressen wird, einer Baumkatze oder einer Riesenschlange.« Sie sah ihn an, vermochte seinen erschütterten Blick allerdings nicht zu ertragen. Er wirkte anklagend, und sie kam sich undankbar vor. Als begehe sie einen Treuebruch, indem sie erzählte, was mit missgestalteten Kindern geschah. »Manchmal erdrosseln oder ersticken sie das Kind, damit es nicht lange leiden muss, und werfen es anschließend in den Fluss. Ich nehme an, das kommt auf die Hebamme an. Meine Hebamme hat mich einfach weggebracht. Sie hat mich in eine Astgabel gesteckt, die abseits von jedem Pfad lag, und ist zu meiner Mutter zurückgeeilt, die stark geblutet hat.« Sie räusperte sich. Tats starrte sie mit leicht geöffnetem Mund an. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass einer seiner unteren Schneidezähne etwas schief stand. Doch dann wandte sie den Blick von ihrem gebannten Zuhörer ab.
»Die Hebamme ahnte nicht, dass mein Vater ihr gefolgt war. Ich war nicht das erste Kind meiner Eltern, aber das erste, das lebend zur Welt kam. Pa sagt, dass er mich einfach nicht aufgeben konnte, dass er das Gefühl hatte, dass ich eine Chance verdient hätte. Deshalb ist er der Hebamme gefolgt und hat mich zurückgebracht, obwohl er wusste, dass viele Leute ihn dafür tadeln würden.«
»Tadeln? Wieso denn?«
Sie sah ihn erneut an, weil sie sich nicht sicher war, ob er sie hochnehmen wollte. Er hatte blasse Augen, blau oder grau, je nach Tageszeit. Doch sie leuchteten nicht. Nicht wie ihre Augen. Ohne Arglist schaute er sie an. Die Ernsthaftigkeit in seinem Blick brachte sie beinahe auf die Palme. »Tats, wie kannst du darüber denn nicht Bescheid wissen? Wie lange lebst du nun schon in der Regenwildnis? Sechs Jahre? Viele Kinder der Regenwildnis sind von der Wildnis, nun ja, berührt. Und wenn sie größer werden, werden sie nur noch andersartiger. Deshalb mussten die Leute irgendwo einen Strich ziehen. Denn wenn du bei der Geburt schon zu andersartig bist, wenn du bereits Klauen und Schuppen hast, was wird dann erst aus dir, wenn du ausgewachsen bist? Und wenn jemand wie ich heiratet und Kinder bekommt, dann sind diese Kinder bei der Geburt sehr wahrscheinlich noch weniger menschlich und entwickeln sich im Alter zu Sa weiß was.«
Tats holte tief Luft und ließ sie kopfschüttelnd entweichen. »Thymara, du tust gerade so, als wärst du kein Mensch.«
»Nun ja«, sagte sie, bevor sie innehielt. Eine Weile jagte sie in ihrem Geist den rechten Worten hinterher. Vielleicht bin ich auch keiner. Glaubte sie das wirklich? Natürlich nicht. Nun ja, vielleicht nicht. Was war sie, wenn sie kein Mensch war? Aber wenn sie Klauen hatte, wie konnte sie dann ein Mensch sein?
Bevor sie die richtigen Worte gefunden hatte, sprach Tats. »In meinen Augen siehst du kaum seltsamer aus als die anderen Leute der Regenwildnis. Ich habe hier schon Leute mit weit mehr Schuppen und Fransen gesehen als du sie hast. Heute macht mir das nichts mehr aus, aber als ich klein war und hierherkam, hatte ich ziemliche Angst vor euch. Jetzt allerdings nicht mehr. Jetzt seid ihr nur noch, nun ja, Gezeichnete. So wie Tätowierte gezeichnet sind.«
»Eure Besitzer haben euch gezeichnet, um deutlich zu machen, dass ihr Sklaven wart.«
Mit seinem Grinsen widerlegte er ihre Worte. »Nein. Sie haben mich gezeichnet, um die Leute glauben zu lassen, sie würden mich besitzen.«
»Ich weiß, ich weiß«, beeilte sie sich zu sagen. Auf diesen Unterschied bestanden viele der ehemaligen Sklaven. Sie begriff nicht, wieso ihnen das so wichtig war, aber offenbar war es das. Ihr war das gleich, mochte er sich die Sache zurechtlegen, wie es ihm gefiel. »Aber mir ging es darum, dass das jemand mit dir gemacht hat. Davor warst du wie jeder andere auch. Ich aber wurde so geboren.« Sie drehte ihre Hand und betrachtete die schwarzen, nach innen gebogenen Klauen. »Ich bin seit jeher anders. Und ich soll nicht heiraten.« Sie sah weg und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Eigentlich darf ich auch nicht leben.«
Darauf entgegnete er
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