Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
hinunter. Vielleicht war ihr Vater nach Hause gekommen und wollte etwas von ihr. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sie jemals ins Haus gerufen hatte.
»Weil es spät ist. Und weil ich es gesagt habe. Komm rein.«
Tats machte große Augen und sagte flüsternd: »Ich habe doch gesagt, dass sie mich nicht leiden kann. Ich gehe lieber, bevor ich dir noch Ärger mache.«
»Tats, das hat nichts mit dir zu tun. Da bin ich mir ganz sicher. Du musst nicht gehen. Wahrscheinlich hat sie bloß irgendeine Arbeit für mich.« In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, weshalb ihre Mutter sie plötzlich ins Haus rief. Sie wusste, dass sie besser hinuntergehen sollte, wo ihre kleine Behausung sachte am Ast baumelte. Aber sie wollte nicht. Wenn ihr Vater nicht zu Hause war, wurden die ohnehin schon beengten Räume durch die Missbilligung der Mutter erdrückend. Plötzlich überkam Thymara eine jähe Halsstarrigkeit, die so gar nicht zu ihrem sonstigen Gehorsam der Mutter gegenüber passte. Sie würde kommen, aber nicht gleich. Was konnte ihre Mutter schon dagegen tun? Sie würde niemals auf die schmalen Äste klettern, auf denen Tats und sie saßen. Ihre Mutter scheute sogar die befestigten Stege in diesem Bezirk Trehaugs. In den Grillenkäfigen, wie dieser Stadtteil mit seinen winzigen Hütten in den obersten Wipfelregionen genannt wurde, gab es nur leichte Brücken und Seilzüge, mithilfe derer die Bewohner und ihre Lasten von Ast zu Ast gelangten. Ihre Mutter verabscheute es, in diesem ärmlichen Bezirk zu wohnen, doch die hängenden Hütten waren günstig. Und hier oben, in den höchsten Regionen des Blätterdachs, war fast alles billiger.
»Gehst du nicht rein?«, fragte Tats leise.
»Nein«, beschloss sie. »Jetzt noch nicht.«
»An was hast du vorhin gedacht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Daran, wie sich alles verändert hat.« Sie sah auf die glitzernden Lampen Trehaugs hinab. Ihr Lichtschein wurde von den mächtigen Stämmen und weit ausladenden Ästen des Regenwaldes gebrochen und gestreut. »Meine Familie war nicht immer arm. Bevor ich geboren wurde, als meine Eltern frisch vermählt waren, wohnten sie da unten. Ganz weit da unten. Mein Vater ist der dritte Sohn eines Regenwildhändlers. Seine Familie hatte Anteile an einem Grabungsfeld in der verschütteten Stadt, und sie waren ziemlich wohlhabend. Aber dann starb mein Großvater, und mein Vater hatte zwei ältere Brüder. Der älteste erbte das Grabungsfeld, und der zweite besaß das Wissen, wie man es am besten ausschlachtete. Da es jedoch nicht genug ausgab, um drei Familien zu ernähren, musste mein Vater auf eigene Faust klarkommen. Manchmal denke ich, dass das meine Mutter verbittert hat, noch bevor ich geboren wurde. Ich glaube, sie hat ein leichtes Leben mit vielen schönen Dingen und hübschen Kindern erwartet, die später einmal eine gute Partie machen würden.«
Ihr Gesicht verzog sich zu einem bitteren Lächeln. »Eine einzige Kleinigkeit, und alles hätte anders kommen können. Wenn mein Vater der älteste Sohn gewesen wäre und alles geerbt hätte, hätte vermutlich schon jemand um meine Hand angehalten, selbst wenn ich einen Affenschwanz hätte und wie eine Baumratte quieken würde.«
Tats lachte prustend heraus, sodass sie erschrak. Doch nach einigen Augenblicken lachte sie mit.
»Hättest du dieses Leben lieber gehabt als dein jetziges?« Er schien die Frage ernst zu meinen.
Sie schnaubte, weil er so dumm war. »Tja, ich mochte das Leben, das ich hatte, als ich jung war und wir noch nicht arm waren, lieber.«
»Arm?«
»Du weißt schon. Von der Hand in den Mund. Mit einer Hütte in den höchsten Regionen Trehaugs, wo Zweige dünn und die Pfade schmal sind. Wir haben nicht immer hier oben gelebt.«
»Für mich seid ihr nicht arm«, wandte Tats ein.
»Na ja, wir waren eben reicher. Das steht zumindest fest.« Thymaras Gedanken wanderten zu ihrer frühen Kindheit zurück. Damals hatten sie gut gelebt. »Früher war mein Pa Jäger, und ein ziemlich guter. Das hat er eine Zeit lang gemacht. Und eine Weile hat er auch Fleisch für die Drachen gejagt, bis das Konzil aufgehört hat, anständig dafür zu bezahlen. Dann hat er beschlossen, es als Bauer zu probieren.«
»Als Bauer? Wo denn? In der Regenwildnis gibt es doch gar kein Land, wo man etwas anbauen könnte.«
»Nicht alle Nutzpflanzen wachsen auf dem Acker. So sagt er immer. Viele der Pflanzen, die wir ernten, wachsen im Blätterdach, in Erdtaschen, die sich in den Beugen der
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