Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
hatte sie auch nur einen Fuß in seine Kabine setzen können, ohne sich einzugestehen, dass er zugrunde ging? Sie hätte etwas Ordnung machen und das Zimmer angenehm und sauber halten können. In jeder Ecke waren die Anzeichen für seine Depression sichtbar. Einen Moment lang fragte sie sich mit Entsetzen, ob er sich absichtlich in die Fluten gestürzt hatte.
Obwohl sie wusste, wie lächerlich es war und dass ihr Mitleid zu spät kam, sammelte sie die ungewaschenen Kleider vom Boden auf, faltete sie zusammen und legte welche zum Waschen zur Seite. Dann schüttelte sie sein Bettzeug aus und ordnete es auf der Pritsche. Es war ein Versprechen an sie selbst, ein törichtes Versprechen, dass er zurückkehren und erleichtert sein würde, wenn er ein sauberes Zimmer vorfinden würde. Sie nahm das Bündel, das er als Kissen benutzt hatte, und schüttelte es auf.
Dabei fiel etwas heraus. Im Dunkeln bückte sie sich und tastete mit den Fingern, bis sie eine dünne Kette fand. Sie hob sie auf und hielt sie ins Licht. Ein Medaillon baumelte daran herab. Es glänzte golden und funkelte trotz des geringen Lichts ein wenig. Sie hatte es nie um Sedrics Hals gesehen, und darum war ihr gleich, als es aus dem Kissen herausgepurzelt war, klar gewesen, dass es ein sehr persönlicher Gegenstand sein musste. Obwohl es ihr einen Stich ins Herz versetzte, lächelte sie. Nie hätte sie gedacht, dass er einen Schatz hatte, und schon gar nicht, dass die Frau ihm ein Medaillon schenkte. Wie eine Ohrfeige kam ihr die Erkenntnis, dass dies der Grund war, weshalb er nicht aus Bingtown hatte fortgehen wollen und weshalb es ihn so quälte, dass die Reise länger dauerte. Warum hatte er ihr das nicht erzählt? Er hätte sie doch ins Vertrauen ziehen können, und dann hätte sie verstanden, weshalb er so unbedingt zurückkehren wollte. Plötzlich sah sie Sedrics Niedergeschlagenheit der letzten Woche in einem neuen Licht. Er war liebeskrank. Mit der freien Hand griff sie nach dem schwingenden Medaillon.
Eigentlich hatte sie es nicht öffnen wollen. Denn sie gehörte nicht zu den Frauen, die herumschnüffelten und spionierten. Aber als ihre Hand das Medaillon berührte, sprang der Verschluss auf, und es öffnete sich. Erschrocken schrie sie auf, als aus dem güldenen Gefängnis eine glänzende schwarze Haarlocke sprang. Um sie wieder hineinzustopfen, klappte sie den Deckel vollends auf – und erstarrte. Aus dem Inneren des Behältnisses starrte sie ein vertrautes Gesicht an. Wer immer der Schöpfer des Bildnisses war, musste ihn gut kennen, um seine Züge gerade in dem Moment festzuhalten, bevor er in Gelächter ausbrach. Seine grünen Augen waren schmal, die fein gemeißelten Lippen so zusammengezogen, dass sie teilweise die Zähne entblößten. Es war das Werk eines begabten Künstlers. Sie sah auf Hests Lächeln. Was hatte das zu bedeuten? Was konnte das bedeuten?
Langsam ließ sie sich auf Sedrics Bett sinken. Mit bebenden Fingern schob sie die mit einem goldenen Faden zusammengebundene Haarlocke in das Medaillon zurück. Sie benötigte drei Versuche, bis der Deckel einrastete. Doch als das Medaillon endlich verschlossen war, wurde die Sache noch rätselhafter. Denn außen war ein einzelnes Wort eingraviert. »Immer«, flüsterte sie vor sich hin.
Lange saß sie da, während vor dem schmalen Fenster allmählich das Licht des Nachmittags erstarb. Es konnte nur eine Erklärung dafür geben. Hest hatte das Medaillon anfertigen lassen und es Sedric anvertraut, damit er es ihr gab. Aber wieso hätte er das tun sollen?
Immer. Was wollte Hest ihr mit diesem Wort sagen? Hatte er Angst, sie zu verlieren? Mochte er sie etwa auf eine verdrehte, absonderliche Art und konnte es ihr gegenüber nur nicht eingestehen? War es das, was das Medaillon ihr sagen sollte? Oder war es als Drohung gedacht, dass er sie »Immer« in seiner Gewalt haben würde? Ganz gleich, wohin oder wie weit sie ging, ganz gleich, wie lang sie ihm fernblieb, Hest würde sie stets an der Leine haben. Immer. Immer. Sie sah auf das Medaillon in ihrer Hand hinab. Vorsichtig hob sie die Kette und wickelte sie um das Medaillon. Dann schloss sie die Finger darum und steckte das Kleinod zurück ins Kissen. Behutsam setzte sie das Kissen wieder aufs Bett.
Ihr Blick wanderte in der winzigen Klammer umher, in der sie ihn eingepfercht hatte. Dunkel, eng und stickig. Unaufgeräumt. Völlig anders als seine Privaträume in ihrem Heim in Bingtown. Er liebte hohe Decken und große Fenster, durch
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