Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
wieder ins Gedächtnis gerufen. Er war verschwunden, und sollte sie ihn jemals wiedersehen, dann bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er genauso zerschunden und aufgedunsen und reglos daliegen würde wie Warken.
Die Hüter bildeten kleine Grüppchen. Jerd war natürlich bei Greft, während Sylve und Harrikin sich mit Boxter und Kase zusammentaten, den beiden Vettern, die jeden Schritt gemeinsam machten. Nortel folgte ihnen. Und Thymara stand – wie so oft – abseits. Sie war die Einzige, die sich ihrem Drachen verweigert hatte. Die Einzige, die nie wusste, welche Regeln die Gruppe über Bord geworfen und welche sie behalten hatte. Ihr Rücken schmerzte scheußlich, sie war vom Wasser verätzt und von Mücken zerstochen, und die Einsamkeit, die sie erfüllte, drohte sie vollends zu zerbrechen. Sie vermisste Alises Gesellschaft, aber jetzt, da diese wieder auf dem Kahn war und die Aufmerksamkeit des Kapitäns genoss, würde sie wahrscheinlich keine Zeit mehr mit Thymara verbringen wollen.
Und sie vermisste Rapskal so schmerzhaft, dass es sie erschreckte.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Sie wandte sich um und war erstaunt, Tats neben sich zu erblicken. »Ich denke schon. Das war eine seltsame, herbe Angelegenheit, findet du nicht auch?«
»In gewisser Weise war es die einfachste Lösung. Und Lecter hat viel Zeit mit Warken verbracht. Sie haben sich oft ein Boot geteilt, von daher nehme ich an, dass er wusste, was Warken gewollt hätte.«
»Bestimmt wusste er das«, gab Thymara leise zurück.
Eine Zeit lang starrten sie auf den Fluss. Die Drachen hatten sich zerstreut. Thymara spürte noch immer Sintaras Wut wie ein kaltes Feuer. Doch es kümmerte sie nicht. Ihre Haut brannte, die Wunde auf dem Rücken tat höllisch weh, und sie gehörte ohnehin nicht dazu.
»Ich kann noch nicht einmal heimgehen.«
Tats fragte nicht, was sie damit meinte. »Das kann keiner von uns. Denn keiner von uns war in Trehaug wirklich daheim. Dies hier, dieser Kahn, so wie wir heute Abend hier sind, das ist das, was wir noch am ehesten als Heim bezeichnen können. Alise, Kapitän Leftrin und seine Mannschaft mit eingeschlossen.«
»Aber ich passe nicht dazu, nicht einmal hier.«
»Du würdest dazupassen, wenn du es wolltest, Thymara. Du bist diejenige, die Abstand wahrt.« Er versetzte seine Hand, legte sie aber nicht auf ihre, sondern so dicht daneben, dass sie sich berührten.
Ihr erster Impuls war, ihre Hand wegzuziehen. Doch mit einiger Anstrengung unterdrückte sie ihn. Und dann fragte sie sich, warum sie ihre Hand hatte wegziehen wollen. Und warum hatte sie es nicht getan? Da sie auf keine der beiden Fragen eine Antwort hatte, stellte sie Tats eine ganz andere: »Weißt du, was Greft mir über dich gesagt hat?«
Sein Mundwinkel zuckte. »Nein, aber ich bin überzeugt, dass es nicht schmeichelhaft war. Und ich hoffe, dass du nicht vergisst, dass du mich besser kennst, als Greft es sich je erhoffen kann.«
Dann war es immerhin kein abgekartetes Spiel unter Jungs gewesen, um das junge, partnerlose Mädchen zu einer Entscheidung zu drängen. Damit stiegen die Hüter in ihrer Meinung ein bisschen. Sie hielt ihren Tonfall so ungerührt und unverbindlich, als rede sie nur davon, wie schön der Abend war. »Er kam letzte Nacht, als ich Wache hielt, zu mir. Er fragte mich, ob ich mich für dich entschieden hätte. Er erklärte mir, dass ich es dann am besten laut und deutlich verkünden sollte. Oder es wenigstens ihm mitteilen sollte, damit er meine Entscheidung bei den anderen durchsetzen könnte. Andernfalls, meinte er, würden sich die Jungs womöglich um mich streiten. Einige Hüter würden dich vielleicht sogar herausfordern oder einen Kampf mit dir anfangen.«
»Greft ist ein Wichtigtuer, der glaubt, für alle sprechen zu können«, sagte Tats nach einem längeren Schweigen. Gerade als sie ihre Begegnung mit Greft als Missverständnis abtun wollte, fügte er hinzu: »Aber es würde mir gefallen, wenn du allen erzählen würdest, dass du dich für mich entschieden hast. Denn was das angeht, hat er recht. Dann wären die Dinge einfacher.«
»Welche ›Dinge‹ wären einfacher?«
Er sah sie von der Seite an. Ihm war so bewusst wie ihr, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte. »Nun. Das eine Ding wäre, dass ich dann eine Antwort hätte. Eine, die mir sehr gefallen würde. Und ein anderes Ding ist …«
»Du hast mich nie etwas gefragt«, unterbrach sie ihn. Sie sprach hastig und erst dann wurde ihr klar, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher