Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
sterbend an einen treibenden Baumstamm? Lebte er noch, war er irgendwo hilflos dem Fluss ausgeliefert? In einer solchen Lage würde er sich nicht zu helfen wissen. Kurz sah sie ihn neben sich stehen, elegant und gewitzt, lächelnd und freundlich. Ihr Freund. Ihr Freund, den sie von allem, was ihm lieb und teuer war, fortgezerrt und an diesen wilden Ort gebracht hatte. Und das hatte ihn zerstört.
Sie ging zu ihrer Kabine und war froh, die Tür hinter sich schließen zu können. Bald genug hätte sie wieder mit all den anderen zu tun, doch jetzt brauchte sie erst einmal ein paar Augenblicke, um zu sich zu kommen. Aus reiner Gewohnheit zog sie sich aus. Das lange Elderlingskleid sah immer noch vollkommen unversehrt aus. Probeweise schüttelte sie den Stoff, und es regnete Staub herab. Nirgends blieb Schlamm daran kleben, und weder Riss noch Loch waren zu sehen. Sie ließ den Stoff durch ihre Hände streichen, und er floss wie geschmolzenes Kupfer. Welch Wunder! Ein viel zu kostbares Geschenk für eine verheiratete Frau, wenn es nicht von deren Ehemann kam. Der Gedanke sprang sie wie aus einem Hinterhalt an, und sie stieß ihn energisch zurück.
Das Kleid war schnell getrocknet, nachdem Alise aus dem Fluss gefischt worden war, und es hatte sie in den rauen Nächten warmgehalten. Und wo es sie bedeckt hatte, war die Haut vor den Verätzungen des Flusswassers geschützt gewesen. Plötzlich hob sie verlegen die Hände zum Gesicht und berührte anschließend ihr verworrenes Haar. Ihre Haut fühlte sich rau und trocken an und das Haar war nur noch ein Bündel Stroh. Im Dämmerlicht betrachtete sie ihre Hände. Die Nägel ihrer geröteten Finger splitterten und waren spröde. Da überkam sie ein zweifaches Schamgefühl. Zum einen, weil sie so furchtbar aussah, und zum anderen, weil sie sich in einer solchen Lage Sorgen um ihr Aussehen machte.
Obwohl sie es oberflächlich fand, griff sie zu einer Duftsalbe und rieb Hände und Gesicht damit ein. Sie zog sich eines ihrer inzwischen abgetragenen Kleider an und nahm sich etwas Zeit, um die Knoten und Strähnen in ihrem Haar zu entwirren. Dann erfasste sie eine neue Woge der Verzweiflung. Mit der nichtigen Beschäftigung mit ihrem Äußeren hatte sie sich erfolgreich abgelenkt. Jetzt, da sie damit fertig war, wurde sie wieder von Gram und Schuldgefühlen übermannt. Kurz spielte sie mit dem verlockenden Gedanken auf eine heiße Tasse Tee und ein Stück Schiffszwieback in die Kombüse zu gehen. Nach den letzten Tagen wäre heißer Tee etwas Feines.
Sedric hatte keinen Tee.
Es war ein alberner Gedanke, aber er trieb ihr Tränen in die Augen. Ein Beben durchlief sie, dann verharrte sie ganz ruhig. »Ich will nicht darüber nachdenken«, gab sie laut zu. Als sie gestrandet war, hatte sie sich eingeredet, dass er mit Leftrin zusammen an Bord des Kahns und in Sicherheit war, obwohl sie keinerlei Grund zu der Annahme gehabt hatte, dass Leftrin oder Teermann wohlbehalten waren. Sie hatte sich ihre Angst nicht eingestanden, und nun flüchtete sie sich immer noch in das Getue um schrundige Hände, störrisches Haar und heißen Tee. Doch es war Zeit, sich den Dingen zu stellen.
Sie verließ ihre Kammer und eilte zu Sedrics Kabine. Mittlerweile waren die meisten Hüter an Bord, und aus der Kombüse drangen Gespräche. Sie kam an Davvie vorbei, der trübsinnig aufs Wasser hinaus starrte. Sie wich ihm aus und überließ ihn seinen Gedanken. Skelly sprach mit Lecter, beide hatten gramerfüllte Gesichter. Sein Blick ruhte auf den Zügen des Mädchens, und Alise hörte, dass Skelly ihn nach Alum fragte. Und als Lecter daraufhin den Kopf schüttelte, zitterten die Dornen an seinem Kinn. Schweigend schlüpfte Alise an den beiden vorbei.
Sie klopfte an Sedrics Tür, nur, um sich einen halben Herzschlag später eine dumme Kuh zu schimpfen. Sie trat ein.
Hatte ihre Abwesenheit ihre Sinne geschärft? In der Kammer erschien ihr alles falsch. Es roch nach ungewaschenen Kleidern und Schweiß. Die Decken waren zusammengeknäult wie das Nest eines Tiers, und der Boden lag voller Kleidungsstücke. Eine solche Unordnung sah Sedric überhaupt nicht ähnlich, ganz zu schweigen von der mangelnden Sauberkeit. Ihr schlechtes Gewissen traf sie mit doppelter Schärfe. Seit er etwas Schlechtes oder Giftiges gegessen hatte, also seit einigen Tagen schon, hatte Sedric an düsteren Stimmungen gelitten. Wie hatte sie ihn nur so oft allein lassen können, auch wenn er unfreundlich und kalt zu ihr gewesen war? Wie
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