Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
sind so, wie Heebys Flügel anfangs waren. Die Haut ist fein wie Pergament, und das Licht scheint bunt durch sie hindurch. Ich halte sie auseinander, damit ich sie anschauen kann.« Er ging um sie herum, und sie spürte, dass er beide Flügel an den äußersten Spitzen fasste. So vorsichtig, als wäre sie ein Schmetterling, öffnete er ihre Schwingen, damit das Licht darauffiel. Sie spürte den Unterschied: Die Wärme der Sonnenstrahlen berührte ihre Flügel und breitete sich wie Wasser in ihnen aus.
»Die Farben sind mit einem Mal kräftiger geworden«, sagte Tats leise.
»Das solltest du jeden Tag machen«, sagte Rapskal nachdrücklich. »Und du solltest üben, wie du sie bewegst, damit sie stärker werden und schneller wachsen. Sonst wirst du nie fliegen können.«
»Oh, mit denen wird sie nicht fliegen können«, beeilte sich Tats, ihm zu erklären, als fürchte er, Rapskal könnte ihre Gefühle verletzen. »Ich habe gehört, wie Sintara ihr das gesagt hat. Die Drachin hat gemeint, sie solle dankbar sein, dass sie so schöne Flügel bekommt, aber dass sie mit denen nicht fliegen kann.«
Rapskal lachte ausgelassen. »Oh, das haben sie Heeby auch immer alle gesagt. Sei nicht närrisch. Natürlich wird sie fliegen können. Sie muss es nur jeden Tag versuchen.« Er beugte sich vor und sprach ihr ins Ohr. »Keine Sorge, Thymara. Ich werde dir mit den täglichen Übungen helfen, so wie ich es bei Heeby getan habe. Du wirst fliegen.«
Sintara hatte sich weit den Hang hinaufbegeben. Von hier konnte sie die abfallende Wiese in ihrer Gänze übersehen. Kelsingra. Sie waren zurückgekehrt. Die hohe Spitze des Kartenturms und die schimmernden Dächer der Gebäude lockten von der anderen Seite des tiefen, reißenden Flusses.
Heute früh hatte sie Heeby beim Jagen zugesehen. Sie hatte erlebt, wie die rote Drachin die Flügel aufgespannt und sich beinahe mühelos in die Luft erhoben hatte. Nur für einen Moment musste sie kräftig mit den Flügeln schlagen, bis der Aufwind überm Fluss sie erfasste und in die Höhe trug. In wenigen Augenblicken war sie zur Größe einer Kuh geschrumpft, und dann zu der eines jagenden Falken. Heeby hatte hoch über der Stadt Kreise gezogen, und während Sintara sie dabei beobachtet hatte, waren ihr qualvolle Erinnerungen daran gekommen, wie es sich anfühlte. Wie man die Schwingen krümmen musste, um aufsteigende warme Luft einzufangen, und wie man den Wind an den Flügeln abgleiten ließ, um sich in die Tiefe zu stürzen.
Sie erinnerte sich. Sie wusste es. Sie war eine Drachin, Herrscherin der drei Reiche, eine Königin von Erde, Luft und Wasser. Kelsingra mit seinen Brunnen süßen flüssigen Silbers lag am anderen Ufer. Ein wahrer Drache würde einfach die Schwingen ausbreiten und hinübersetzen.
Sintara hatte die Flügel ausgebreitet und spürte die Sonne auf ihnen, spürte den wärmenden Kuss ihrer Strahlen. Sacht bewegte sie die Flügel und bemerkte den Wind, der dabei entstand. Dann fiel ihr ein, wie Thymara sie verhöhnt und sich ihr widersetzt, sie faul und sogar dumm genannt hatte. Ihr fielen Heebys törichte Flugversuche ein. Wie plump und unbeholfen sie dabei ausgesehen hatte, als sie immer und immer wieder Anlauf genommen hatte, um sich vom Boden zu lösen, aber doch stets gescheitert war. Die Kupferne hatte weder Stolz noch Würde im Leib.
Sintara vernahm einen fernen Ruf, das schrille Signal eines jagenden Drachen. Mit ihren scharfen Augen machte sie Heeby aus, die die Flügel anlegte und auf etwas herabstieß. Etwas Großes, wie Sintara plötzlich mit Bestimmtheit wusste. Etwas Großes, Fleischiges, in dem heißes Blut floss.
Sie schüttelte die Schwingen in der Sommersonne. Der grasbedeckte Hang lag offen vor ihr. Und jenseits des Flusses lag Kelsingra, Stadt der Elderlinge und Drachen.
Sie lief einige Dutzend Schritte, bevor sie es wagte, mit den Flügeln zu schlagen. Kurz lösten sich ihre Pranken vom Boden, bevor sie wieder aufkam. Aber sie strauchelte nicht. Ihre Schwingen waren ausgebreitet und sie federten den Sturz ab.
»Sintara!«, hörte sie jemanden voll Erstaunen ausrufen. »Seht euch Sintara an!«
Noch ein weiteres Dutzend Schritte, und diesmal schlug sie langsamer und kraftvoller mit den Flügeln.
Und dann sprang sie und ließ die Erde unter sich zurück.
Siebzehnter Tag des Regenmonds
IM SECHSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS
Von Detozi, Vogelwart in Trehaug an Reyall, stellvertretender Vogelwart in Bingtown Anbei eine
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