Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
nicht beleidigt, sondern nachdenklich. »Ich glaube, sie will nur herausfinden, wie viel Macht sie über uns hat. Ich habe ihren Zauber gespürt. Habt Ihr ihn auch gespürt?«
»Natürlich. Das ist ein Teil von ihr. Ich weiß nicht, ob Drachen die Wirkung, die sie auf Menschen haben, überhaupt beherrschen können. Das ist ihre Natur. Genauso wie ein Mensch seinen Schoßhund dominiert.«
»Ich bin nicht ihr Schoßtier«, gab Thymara zurück, und Furcht verlieh ihren Worten Schärfe. Hatte Sintara mehr Macht über sie, als ihr bewusst war?
»Nein, das bist du nicht, und ich bin es auch nicht. Auch wenn ich vermute, dass sie mich noch am ehestens als Haustier ansieht. Dich dagegen achtet sie, glaube ich, weil du jagen kannst. Aber sie hat mir mehr als einmal gesagt, dass ich als Frau dabei versage, mich zu behaupten. Ich bin mir nicht sicher, warum, aber ich glaube, dass ich sie enttäusche.«
»Sie hat mich heute Morgen zum Jagen gedrängt, und ich habe ihr gesagt, dass mir Fischen lieber ist.«
»Und mir hat sie gesagt, dass ich dir folgen soll, als du zur Jagd aufgebrochen bist. Ich habe dich hier am Ufer getroffen.«
Thymara schwieg. Wieder hob sie den Fischspeer und ging langsam und grübelnd am Fluss entlang. War es Verrat? Dann sagte sie: »Ich weiß, was sie Euch zeigen wollte. Dasselbe, das ich gesehen habe. Ich glaube, sie wollte Euch wissen lassen, dass Jerd und Greft miteinander geschlafen haben.«
Sie wartete auf eine Erwiderung. Als keine kam, wandte sie sich zu Alise um. Die Wangen der Frau waren wieder gerötet, aber sie bemühte sich, unaufgeregt zu sprechen. »Nun. Ich vermute, wenn man so ganz ohne Privatsphäre und fast ohne Aufsicht lebt, kann ein junges Mädchen leicht dem Drängen eines jungen Mannes nachgeben. Sie wären nicht die Ersten, die vom Essen probieren, bevor der Tisch gedeckt ist. Weißt du, ob sie heiraten wollen?«
Thymara starrte sie an. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Alise, Leute wie ich, Leute wie sie, die bereits so stark von der Regenwildnis gezeichnet sind, dürfen nicht heiraten. Und auch nicht miteinander schlafen. Damit brechen sie eines der ältesten Gesetze der Regenwildnis.«
»Ist das wirklich ein Gesetz?« Alise sah verblüfft aus.
»Ich … ich weiß nicht, ob es ein Gesetz ist. Aber es ist ein Brauch, eine Sache, die jeder weiß und befolgt. Wird ein Kind geboren, das schon zu sehr vom reinen Menschen abweicht, ziehen es die Eltern nicht auf. Sie ›übergeben es der Nacht‹, setzen es aus und probieren erneut, ein Kind zu bekommen. Bis auf ganz wenige wie mich, nun ja, weil mein Vater mich zurückgeholt hat. Er hat mich behalten.«
»Da ist ein Fisch, ein richtig großer. Im Schatten dieses Treibholzscheits. Siehst du ihn? Man könnte meinen, er verschmilzt mit dem Schatten.«
Alise klang aufgeregt, und Thymara war verwirrt über den Themenwechsel. Aus einer plötzlichen Laune heraus reichte sie Alise den Speer. »Ihr holt ihn Euch. Ihr habt ihn zuerst gesehen. Denkt daran, dass Ihr nicht versucht, den Fisch einfach so aufzuspießen. Sondern stecht so zu, als wolltet Ihr ihn am Flussbett festnageln. Und stoßt kräftig zu.«
»Du solltest das machen«, sagte Alise, als sie den Speer in die Hand nahm. »Ich werde ihn verfehlen. Er wird entkommen. Dabei ist er wirklich riesig.«
»Dann ist er ein umso leichteres Ziel für Euren ersten Versuch. Macht schon. Probiert es aus.« Langsam wich Thymara vom Wasser zurück.
Alises blasse Augen weiteten sich. Ihr Blick glitt von Thymara zu dem Fisch und wieder zurück. Dann holte sie zweimal bebend Luft und schnellte unvermittelt und mit dem Speer in der Hand auf den Fisch zu. Als sie die Waffe kraftvoller als nötig in den Grund rammte, geriet sie platschend ins knöcheltiefe Wasser und schrie auf. Mit offenem Mund sah Thymara der Frau aus Bingtown dabei zu, wie sie den beidhändig gefassten Speer noch tiefer in den Schlamm rammte. Bestimmt war der Fisch längst entwischt. Aber nein, Alise stand im Wasser und hielt krampfhaft den Speerschaft fest, während der lange, fette Fisch zappelnd sein Leben aushauchte.
Als er endlich zum letzten Mal gezuckt hatte, wandte Alise sich zu ihr um und rief atemlos: »Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft! Ich habe einen Fisch aufgespießt! Ich habe ihn erlegt!«
»Ja, das habt Ihr. Doch Ihr solltet aus dem Wasser kommen, bevor Ihr Euch die Stiefel ruiniert.«
»Was kümmern mich die Stiefel? Ich habe einen Fisch erbeutet. Kann ich es noch einmal versuchen?
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