Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
feine Dame?«, unterbrach sie Alise und stieß ein seltsam schrilles Lachen aus. »Du glaubst, ich wäre eine feine Dame?«
»Nun … gewiss. Seht Euch doch nur an, wie Ihr Euch kleidet. Und Ihr seid aus Bingtown und eine Gelehrte. Ihr schreibt Bücher über die Drachen und wisst alles über die Elderlinge.« Dann gingen ihr die Gründe aus und sie sah Alise einfach nur an. Selbst um im Morgengrauen am Ufer entlangzugehen, hatte die Dame sich die Haare frisiert und hochgesteckt. Dazu hatte sie einen Hut aufgesetzt, der ihr Gesicht vor der Sonne schützte. Zwar trug sie Hemd und Hosen, aber diese waren feinsäuberlich gebügelt, und die Spitzen ihrer schwarzen Stiefel glänzten sogar dann noch, wenn Schlamm an ihnen klebte. Thymara sah an sich selbst herab. Der Morast, der an ihren Stiefeln und Schnürsenkeln klebte, war nicht nur ein paar Stunden, sondern Tage alt. Ihr Hemd und ihre Hose waren abgenutzt und ungewaschen. Und ihr Haar? Unwillkürlich berührte sie die dunklen Zöpfe. Wann hatte sie ihre Haare zum letzten Mal gewaschen, gekämmt und neu geflochten? Wann hatte sie sich zum letzten Mal gewaschen?
»Ich habe einen reichen Mann geheiratet, aber meine Familie ist, nun ja, nicht sonderlich betucht. Vermutlich bin ich in Bingtown eine Dame, und das ist recht angenehm. Doch hier in der Regenwildnis habe ich angefangen, mich selbst etwas anders zu sehen. Meine Wünsche sind nicht mehr dieselben.« Ihre Stimme verlor sich immer mehr, bis sie plötzlich hinzusetzte: »Wenn du magst, kannst du heute Abend in meine Kabine kommen. Ich könnte dir zeigen, wie du dein Haar frisieren kannst. Und du hättest den Platz für dich, um ein Bad zu nehmen, auch wenn die Wanne kaum groß genug ist, um darin zu stehen.«
»Ich weiß, wie man sich wäscht!«, blaffte Thymara gekränkt zurück.
»Entschuldige«, erwiderte Alise sogleich und bekam hochrote Wangen, röter, als Thymara es je gesehen hatte. »Meine Worte sollten dich nicht … Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich habe gesehen, wie du dich angeschaut hast, und dachte daran, wie eigennützig es von mir ist, dass ich mich in meinen eigenen vier Wänden baden und umziehen kann, während du und Sylve und Jerd hier draußen ein raues Leben führt und ständig unter Jungs und Männern sein müsst. Ich wollte dich nicht …«
»Ich weiß.« Was sie nun sagen musste, fiel ihr alles andere als leicht. Sie wich Alises Blick aus und zwang sich, weiterzusprechen. »Ich weiß, dass Ihr es nett gemeint habt. Mein Vater hat mir immer gesagt, dass ich zu schnell gekränkt bin. Und dass mich nicht jeder gleich beleidigen will.« Nach und nach schnürte sich ihr die Kehle zu, und in den Augenwinkeln schmerzten aufgestaute Tränen. Die Worte, die sie eben noch hatte herauspressen müssen, konnte sie nun nicht mehr aufhalten. »Ich rechne einfach nicht damit, dass jemand mich mag oder nett zu mir ist. Ganz im Gegenteil. Ich erwarte …«
»Du musst dich nicht erklären«, sagte Alise plötzlich. »Wir sind uns ähnlicher, als du denkst.« Sie ließ ein zitterndes Lachen hören. »Erfindest du manchmal Gründe, um Leute zu verachten, bevor du sie überhaupt kennenlernst, nur damit du sie ablehnen kannst, bevor sie dich ablehnen können?«
»Na klar«, gab Thymara zu, und das anschließende gemeinsame Lachen hatte etwas Brüchiges. Am Ufer flog ein Vogel auf, der sie beide erschreckte, doch dann wurde ihr Lachen natürlicher und endete, als sie gemeinsam Atem holen mussten.
Alise wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich frage mich, ob Sintara wollte, dass ich das von dir erfahre. Sie hat mir heute Morgen dringend ans Herz gelegt, dich aufzusuchen. Glaubst du, sie wollte, dass wir merken, dass wir gar nicht so unterschiedlich sind?« Wenn die Frau über die Drachen sprach, schlich sich Wärme in ihren Tonfall, doch bei diesen Worten lief es Thymara kalt über den Rücken.
»Nein«, sagte sie leise. Sie versuchte, ihren Gedanken mit Bedacht Ausdruck zu verleihen, um Alises Gefühle nicht zu verletzen. Sie war sich noch nicht sicher, ob sie den freundschaftlichen Umgang gutheißen sollte, den die Frau aus Bingtown offenbar anstrebte, aber sie wollte sie auch nicht wieder abschrecken. »Nein, ich glaube, Sintara hat Euch manipuliert, oder vielmehr: uns. Vor ein paar Tagen hat sie mich zu etwas angetrieben, das sich, nun ja, als nicht so gut herausstellte.« Sie richtete den Blick auf Alise und fürchtete sich vor dem, was sie sehen würde. Aber die Frau aus Bingtown war
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