Raine der Wagemutige
hatte, würde Jamie einsehen, dass sie nicht nur das einzig Richtige getan hatte, sondern auch das Beste. Schon bald würden die Soldaten, die an den Docks Wache hielten, ihrem Gefährten bei der Verfolgung des Mannes, den sie für La Bete hielten, zu Hilfe eilen. La Bete, der berüchtigtste Schmuggler, hatte einmal zu oft die französischen Behörden der Lächerlichkeit preisgegeben. Zum ersten Mal seit vierzehn Tagen würden sich durch ihre List vergleichsweise wenig Wachen auf den Docks aufhalten. Der echte La Bete konnte so einigermaßen sicher wichtige Fracht an Bord bringen, bevor er in seine Heimat Schottland zurückkehrte.
Diese „wichtige Fracht“ berührte mit den Fingerspitzen ihre Lippen. Sie war nie zuvor geküsst worden. Niemals hatte sie die Berührung eines Mannes erfahren, der nicht mit ihr verwandt war. Er war der Erste gewesen. Ein hoch gewachsener, harter Engländer mit sherryfarbenen Augen, einem stinkenden Gefängnis entsprungen. Er hätte sein Schicksal verflucht, wenn sie wirklich Madame Noir gewesen wäre, dessen war sie sich sicher. Warum fühlte sie sich dann so schuldig?
Die Ehrlichkeit, die die Schwestern in Sacre Coeur von ihr verlangt hatten, hielt die Antwort schon bereit. Sie war um keinen Deut besser als Madame Noir. Sie hatte lediglich den jungen Mann für etwas anderes benutzt.
Sie senkte den Kopf und sandte ein kurzes Gebet gen Himmel, dass er seine Freiheit erlangen mochte. Und doch, als sie es beendet und das Kreuzzeichen gemacht hatte, voller Schuldgefühle, einen anderen so skrupellos benutzt zu haben, wusste sie, dass sie nicht anders gehandelt hätte. Es ging nicht nur um sie allein.
Sie wich von dem Fenster zurück und zog die Vorhänge zu, als ob sie damit auch das Bild des Engländers vertreiben konnte. Was sie tat, tat sie für ihren Clan, um das ein Jahrzehnt zurückliegende Unrecht, das sie ihnen angetan hatte, wieder gutzumachen.
Sie war die Einzige, die es wieder gutmachen konnte.
Sie war in diesem Wissen erzogen worden, geformt und angepasst. Sogar in dem französischen Kloster, wohin sie vor so vielen Jahren geschickt worden war, hatten die Briefe von Muira Dougal sie an ihre Verpflichtung gemahnt. Jetzt endlich war für sie die Zeit gekommen, zu handeln.
Favor McClairen kehrte heim.
6. KAPITEL
Das halbe Dutzend Männer an den Rudern des schmalen Bootes legte sich lautlos in die Riemen. Jamie saß am Heck, die Hand am Steuer und lenkte das Boot durch das schwarze Wasser, beinahe wie Charon, der die Verstorbenen über den unterirdischen Fluss Styx in den Hades übersetzte.
Glück, dass ich nicht gestorben bin, rief sich Favor ins Gedächtnis. Sie kehrte heim. Sie sollte eigentlich außer sich vor Freude sein. Sie hatten es geschafft, auch wenn alle Welt sich gegen sie verschworen zu haben schien.
Seit Tagen hatte es die ganze Nordküste Frankreichs entlang nur so von Soldaten, Wachen und Arbeitern, Kaufleuten und Seemännern gewimmelt, die sich alle an der Jagd nach dem berüchtigten Schmuggler La Bete beteiligt hatten - oder noch richtiger an der Jagd nach dem unerhört hohen Geldbetrag, der für seine Ergreifung ausgesetzt war. Trotzdem war es Jamie wieder einmal gelungen, die französischen Behörden zum Narren zu halten.
Nachdem sie ein paar Tage in seiner Gesellschaft verbracht hatte, verstand Favor, wie er diese nicht gerade einfache Tat hatte vollbringen können. Es war Jamie gewesen, der entschieden hatte, dass ihre besten Chancen, unentdeckt zu bleiben, darin lagen, sich ganz unbefangen zu zeigen. Er war mit seinem Schiff in einem Hafen vor Anker gegangen, statt in den versteckten Buchten, die Schmuggler sonst bevorzugten.
Während die Aktionen der Behörden sich auf die Küste konzentriert hatten, waren die Verantwortlichen dennoch nicht so leichtfertig gewesen, die Hafenstädte gänzlich außer Acht zu lassen. Darum war es nötig geworden, für ein Ablenkungsmanöver zu sorgen, das Jamie und seinen Männern die nötige Zeit verschaffte, ihre Schmuggelfracht zu laden - und natürlich Favor an Bord zu holen. Wieder dachte Jamie sich einen Plan aus. Aber damit der erfolgreich umgesetzt werden konnte, bedurfte es eines Engländers - eines Engländers, den sie zurücklassen konnten. Doch wo sollte man so schnell einen willigen Dummkopf herbekommen?
Erstaunlicherweise war es ausgerechnet die Ehrwürdige Mutter von Sacre Coeur, die auf diese Frage eine Antwort wusste.
Nun, gewiss verfügte die Äbtissin über unzählige Informationsquellen, auf
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