Raine der Wagemutige
.“
„Wie viele?“ hakte sie nach.
„Vier.“
„Ihr wart kaum mehr als ein Junge . . .“ Er hörte sie fast nicht, und das Entsetzen in ihrer Stimme war ihm unangenehm. Verunsichert wandte er seinen Blick ab, nur um ihn augenblicklich wieder zu ihr zurückschweifen zu lassen, weil er seit Jahren keine Frau wie sie zu Gesicht bekommen hatte.
„Es ist so ungerecht“, murmelte sie. „Das ist nicht richtig. “
Einmal mehr weckte ihre Naivität den seit langem ruhenden Teufel in ihm, ein fast verlorener Teil seines Wesens, der sich über so etwas wie die Unschuld eines Mädchens immer noch amüsieren konnte. .„Richtig“, ma petite ? Was hat richtig mit meinem Leben zu tun . . . oder Eurem?“
Seine Hand war immer noch in ihrem Haar. Langsam, sie nicht aus den Augen lassend, wand er eine dicke Strähne ihres Haares um sein Handgelenk. Sie leistete Widerstand, aber nicht ernsthaft. Mit jedem leichten Ziehen wich die Steifheit aus ihren Gliedern, schmolz sie dahin wie Wachs in der Nähe der Flamme. Ihre Lippen - so voll sinnlicher Versprechen, wie ihre Augenbrauen voll strenger Missbilligung - teilten sich verwundert. Er sah das Weiß ihrer Zähne aufblitzen, das Flackern der Überraschung in ihren Augen. Süßer, nach Klee duftender Atem strich sanft über seine Wangen .. .
„Da ist er!“ Die kleine Klappe in der Kutschenwand wurde aufgerissen, und Jacques blickte auf sie herab.
Das Mädchen schrak zurück und zuckte zusammen, als es dabei an seinen Haaren riss. Raine befreite die Strähnen. Verfluchter Jacques.
„Vergesst nicht, sprecht nur Englisch“, zischte Jacques. „Wartet bis er ganz nah ist. Er wird nicht wollen, dass Ihr Aufmerksamkeit auf ihn lenkt, und außerdem ist, vermute ich, sein Französisch schauderhaft.“
Er ließ das Türchen zuschnappen. Raine schaute zu der jungen Frau. Sie wirkte blass und besorgt.
„Einen Kuss als Glücksbringer, ma petite ?“
Ihre Augen wurden groß. „Non, Monsieur! Ich bin erst seit kurzem . . .“
„ .. . und ich bin erst seit kurzem frei.“ Er umfasste ihren Kopf und zog sie zu sich, bedeckte ihren blütenblattgleichen Mund mit seinem unerbittlichen. Einen berauschenden Augenblick lang waren ihre Lippen nachgiebig, dann jedoch begann sie sich zu wehren und stieß ihn von sich. „Macht schon! Beeilt Euch“, rief Jacques.
Raine neigte den Kopf in einer höflichen Verbeugung und öffnete den Kutschenschlag. „Madame, betrachtet Eure Schuld als bezahlt.“ Er sprang auf die Straße, und ohne einen Blick zurück überquerte er sie.
Neben der Tür zur L'Auberge Au Cheval Rouge stand ein Mann, nur spärlich von der Laterne seitlich über ihm beleuchtet. Er hielt seinen dicken Umhang eng um sich geschlungen, um den auffrischenden Wind abzuhalten. Sein Gesichtsausdruck war eifrig, seine Haltung angespannt.
Raine verlangsamte seine Schritte und sah sich um. Drei Männer standen unweit, dicht zusammengedrängt an der Ecke des Wirtshauses und rieben ihre Hände über dem schwachen Glühen eines kleinen Kohlebeckens aneinander. Am Ende der Straße saß ein Kutscher zusammenge-kauert auf seinem Sitz, und das Paar schlecht aufeinander abgestimmter Pferde, das vor seine Chaise gespannt war, tänzelte unruhig hin und her.
Der hoch gewachsene Mann trat unter die Laterne. Er hatte ein blasses, grausames Gesicht.
„Lambett?“ rief er ihm entgegen.
„Ja“, antwortete Raine. Er blieb stehen. Jacques hatte ihn eindringlich gewarnt, sich unauffällig zu verhalten, doch der Schmuggler rief seinen Namen quer über die beinahe verlassen daliegende Sackgasse.
Einer der Männer an der Hausecke hob seinen Kopf. Weiter unten an der Straße wurde die Tür der Chaise geöffnet. Der hoch gewachsene Mann nickte sichtlich zufrieden, streckte seine Hand aus und kam rasch auf ihn zu, sein bleiches Gesicht. . .
Bleich.
Kein Seemann hatte ein so blasses Gesicht.
Er war hereingelegt worden. Hinter sich hörte er die Stimme der Frau rufen: „Es ist eine Falle! Lauft!“
Der Rat war überflüssig. Er rannte schon.
Das Mädchen beobachtete, wie die hoch gewachsene, schlanke Gestalt des namenlosen jungen Mannes an den Soldaten vorbeilief, die aus der Kutsche quollen, und von der Nacht verschluckt wurde. Von seinem Platz auf dem Kutschbock hörte sie „Jacques“, besser bekannt als Jamie Craigg und in letzter Zeit auch als „La Bete“, ausgiebig fluchen, bevor er die Pferde zu einem halsbrecherischen Tempo antrieb.
Wenn er seinen Ärger erst einmal überwunden
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