Raketenmänner (German Edition)
ständig von Menschen, die ihre Kinder umbrachten. Vielleicht passierte es nicht häufiger als vor dreißig, vierzig Jahren, aber es kam einem so vor, weil man es zusätzlich noch auf allen möglichen Seiten im Internet las und weil man selbst Kinder hatte und weil man sich irgendwann fragte, was geht mich der Scheiß überhaupt an, beziehungsweise, vielleicht geht es ja weg, wenn ich nicht dran denke und die Decke über den Kopf ziehe. Vor ein paar Monaten hatte Riedel sich mal hingesetzt und das aufgeschrieben. Siebenundzwanzig Seiten mit der Überschrift Eskapist? Allerdings! lagen in seiner Schreibtischschublade.
Das Telefon klingelte. Riedel ging wieder hinein und lehnte die Terrassentür nur an, weil er gleich noch mal nach draußen wollte. Es war Becker. Hätte Riedel auf das Display geachtet, wäre er nicht rangegangen.
»Gott sei Dank«, sagte Becker, »endlich erreiche ich dich. Es stimmt was nicht mit deiner Mailadresse. Ich kriege immer nur Fehlermeldungen zurück.«
»Hallo«, sagte Riedel.
»Da du so schlecht erreichbar bist, gehe ich mal davon aus, du schreibst.«
»Einkaufslisten«, sagte Riedel.
Becker seufzte. »Hör mal, wir haben ja alle eine Menge Verständnis für deine Situation, aber langsam werden hier ein paar Leute nervös. Dein Vorschuss war einigermaßen üppig.«
Der Gong rettete Riedel.
»Es hat geklingelt«, sagte er. »Da steht ein ganzer Trupp Handwerker vor der Tür.«
»Riedel!«, sagte Becker. »Überspann den Bogen nicht!«
Riedel legte auf und ging zur Tür. Vielleicht könnte er Eskapist? Allerdings! auf hundert Seiten aufblähen. Eventuell wäre so endlich mal Ruhe.
»Tut mir leid«, sagte Ulrike, »ich bin spät dran.«
»Kaffee?«
»Ja, warum nicht.«
Ulrike hängte ihre Daunenjacke an die Garderobe und zog noch im Eingangsbereich ihre Stiefel aus, die von Schnee gerändert waren.
Als sie in die Küche kam, hatte er neben ihren Kaffee den Warentrenner mit der Werbung für Brustuntersuchungen gestellt. Ulrike war begeistert.
»Ich habe nächste Woche eine Firmenfeier, da baue ich das ein. Die stehen auf so was!«
Natürlich ging es nun um die Frage, ob sie nach oben gehen sollten, da sie sich schon fast eine Woche nicht gesehen hatten. Riedel war skeptisch, aber letztlich wollte er es auch. Die Kinder kamen nicht vor halb zwei nach Hause. Ulrike nahm seine Hand und führte ihn die Treppe hoch. Das erinnerte Riedel an eine Formulierung, die Fußballkommentatoren oft benutzen: kontern im eigenen Stadion. Hörte sich immer an, als wäre das ehrenrührig. Dabei war das Kontern eine legitime Spielanlage. Genauso durfte man sich auch im eigenen Haus von einer Frau, die nicht dort wohnte, ins Schlafzimmer führen lassen.
Während Ulrike sich auszog, saß Riedel auf der Bettkante. Sie setzte sich rittlings auf seinen Schoß und fing an, ihn zu küssen, öffnete sein Hemd und arbeitete sich den Hals hinunter.
Eine halbe Stunde später lagen sie zusammen unter der Bettdecke, und Ulrike sagte, Riedel habe heute so gewirkt, als wäre er nicht ganz bei der Sache. Er erzählte ihr von Beckers Anruf und dass er das Geld längst ausgegeben habe, ihm aber nichts mehr einfalle.
»Was ist mit dem großen Ding, an dem du immer gearbeitet hast?«
Riedel antwortete nicht gleich. »Ich lese mir das durch«, sagte er schließlich, »und denke: Welcher Idiot hat diesen Schwachsinn verzapft?«
»Ach, das denkt man oft, aber tatsächlich braucht man nur etwas Abstand.«
»Ich habe vier Jahre Abstand. Es ist einfach nur schlecht, damit muss man sich abfinden. Es ist vorbei. Ich kann es nicht mehr.«
»Du hast doch so viele gute Ideen!«
»Das wird mal auf meinem Grabstein stehen: Er hatte so viele gute Ideen. Und die Leute werden fragen: Welche denn? Seit ich hier alleine zuständig bin, ist alles weg. Egal. Ich ziehe meine Kinder groß. Ist ja auch was.«
Plötzlich klingelte es. Riedel zuckte zusammen, entspannte sich aber gleich wieder.
»Das muss die Post sein«, sagte er. »Sicher ein Päckchen. Aber wir haben so einen Ablagevertrag. Der deponiert das neben der Tür.«
Es klingelte noch mal.
»Das macht er immer«, sagte Riedel.
»Ich bin ganz ruhig«, sagte Ulrike.
Jetzt klingelte es sturm. Zwei Kinderstimmen riefen: »Papa!«
Riedel sprang aus dem Bett und rannte ins Bad. Er öffnete das Fenster und rief hinunter: »Einen Moment!«
Er hastete zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Ulrike war schon so gut wie fertig.
»Mist«, sagte Riedel, »was sollen wir
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