RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
Im besten Fall ein Ehrenamt
ohne jegliche Machtbefugnis.
Chenar würde sich fügen, um den Schein zu wahren, aber
verzichten würde er nicht. Die Zukunft hielt vielleicht doch ein paar
Überraschungen bereit. Ramses war noch nicht Pharao, und im Verlauf der
Geschichte Ägyptens waren schon etliche Regenten früher verstorben als der
König, der sie erwählt hatte. Sethos könnte, dank seiner Widerstandsfähigkeit,
noch Jahre leben. Und in dieser Zeit würde er nur einen ganz geringen Teil
seiner Machtbefugnisse abtreten, was den Regenten in eine heikle Lage bringen
dürfte. Chenar müßte nur ein wenig nachhelfen, ihn bewegen, unverzeihliche
Fehler zu begehen, dann wäre sein Sturz gewiß. Im Grunde war noch nichts
verloren.
»Moses!« rief Ramses, als er auf der großen Baustelle
in Karnak, die Sethos eröffnet hatte, den Freund gewahrte. Der Hebräer ließ die
Steinhauer, die ihm unterstanden, kurzerhand stehen und verneigte sich vor dem
Regenten.
»Ich huldige dem…«
»Steh auf, Moses.«
Sie beglückwünschten sich gegenseitig, freuten sich
über diese Begegnung.
»Ist das dein erstes Amt in Karnak?«
»Das zweite. Ich habe auf dem Westufer die
Ziegelherstellung und das Behauen der Steine gelernt und wurde dann hier
ernannt. Sethos will eine riesige Säulenhalle errichten, mit Säulenabschlüssen
in Form von Papyrusblüten und Lotosknospen, die einander abwechseln sollen. Die
Mauern werden den Flanken der Berge gleichen, die Reichtümer der Erde werden
auf den Innenwänden dargestellt sein. Die Schönheit des Bauwerks wird bis in
den Himmel reichen.«
»Du bist in der Tat ganz hingerissen!«
»Ist der Tempel nicht ein goldener Schrein, der alle
Wunder der Schöpfung in sich birgt? Ja, der Beruf des Baumeisters begeistert
mich. Ich glaube wahrlich, meinen Weg gefunden zu haben.«
Sethos trat zu den beiden jungen Männern und erläuterte
sein Vorhaben. Der von Amenophis III. errichtete überdachte Gang mit den
vierzig Ellen hohen Säulen entsprach der Größe Karnaks nicht mehr. Daher hatte
er einen richtigen Säulenwald entworfen mit engen Zwischenräumen und einem von
geöffneten Kapitellen erzeugten ausgeklügelten Lichterspiel. Wäre der Saal erst
fertig, würde dank der Anwesenheit der Götter und des Pharaos auf den
Säulenschäften der Kult niemals unterbrochen werden. Die Steine würden das
Urlicht bewahren, von dem Ägypten sich nährte. Moses stellte Fragen zu
Ausrichtung und Widerstandsfähigkeit der Baustoffe. Der König wußte ihn zu
beruhigen und unterstellte ihm einen Meisterhandwerker aus der Zunft vom »Platz
der Wahrheit«. Der kam vom Westufer aus dem Dorf Deir el Medineh, wo erfahrene Handwerker
ihre Berufsgeheimnisse weitergaben.
Es wurde Abend über Karnak. Die Arbeiter hatten ihr
Werkzeug aufgeräumt, die Baustelle war leer. In weniger als einer Stunde würden
Astronomen und Astrologen auf das Dach des Tempels steigen, um die Botschaft der
Sterne zu erforschen.
»Was ist ein Pharao?« fragte Sethos Ramses.
»Derjenige, der sein Land glücklich macht.«
»Damit dir dies gelingt, darfst du nicht danach
trachten, die Menschen um jeden Preis zu beglücken. Du mußt Taten vollbringen,
die den Göttern und der immerwährenden Schöpfungskraft wohlgefällig sind.
Erbaue Tempel, die dem Himmel ähneln, und opfere sie ihrem göttlichen Herrn.
Forsche immer nach dem Wesentlichen, dann wird auch das Zweitrangige harmonisch
sein.«
»Ist das Wesentliche nicht die Maat?«
»Maat weist die Richtung, sie steuert die Barke, sie
ist der Sockel des Throns, die vollkommene Elle, die Geradlinigkeit des Seins.
Ohne sie kann nichts Gerechtes vollbracht werden.«
»Vater…«
»Welche Sorge quält dich?«
»Werde ich meiner Aufgabe gewachsen sein?«
»Wenn du nicht fähig bist, dich zu erheben, wirst du
erdrückt werden. Ohne des Pharaos Tun, ohne sein Wort und die Riten, die er
vollzieht, würde die Welt aus dem Gleichgewicht geraten. Sollte aus Torheit und
Gier der Menschen das Amt des Pharaos eines Tages verschwinden, wird die
Herrschaft der Maat zu Ende gehen und Finsternis die Erde überziehen. Dann wird
der Mensch alles ringsum zerstören und auch seinesgleichen nicht verschonen.
Der Starke wird den Schwachen vernichten, Ungerechtigkeit wird triumphieren,
Gewalt und Mißgunst werden um sich greifen. Die Sonne wird nicht mehr aufgehen,
selbst wenn ihre Scheibe noch am Himmel steht. Aus sich selbst steuert der
Mensch das Böse an. Der Pharao hat die Aufgabe, den verbogenen Stab
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