Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
herum, während der Steuermann die Mannschaftsunterkunft auf den Kopf stellte. Carl blinzelte ins Licht. Die Tage waren noch immer lang, aber die Sonne wärmte nicht mehr. Das Schiff schaukelte sanft. Das Meer rollte mit großer, langsamer Dünung. Er trat an die Reling und vermied es, die anderen anzusehen. Er fühlte sich unglaublich gedemütigt. Plötzlich wurde er auf jemanden von der Mannschaft reduziert, auf einen liederlichen Kerl, der unzüchtiger Handlungen verdächtigt wurde. Würde der Kapitän ihn vielleicht sogar zur ärztlichen Untersuchung schicken, wenn sie Kopenhagen anliefen?
Der blinde Passagier wurde nicht gefunden.
Carl nahm seine tägliche Routine an Bord des Schiffs wieder auf. Er zeigte sich sogar bei den Mahlzeiten und stocherte im Essen. Es hätte einen schlechten Eindruck gemacht, wenn er sich ferngehalten hätte. Er hatte keine Lust, an seinen Skizzen zu arbeiten. All dies hatte er längst hinter sich. In Gedanken beschäftigte er sich mit der Heimkehr. Er dachte an seine Kinder und ihm wurde seltsam zu Mute. Nicht nur Sehnsucht erfüllte ihn, er empfand Trauer. Am meisten dachte er an Karla, die noch keine vier Jahre alt war. Würde er jemals sehen, wie sie größer wurde?
Mit einem Mal erschrak er über diesen Gedanken. Es war normal, dass Eltern sich um die Zukunft ihrer Kinder Sorgen machten. Aber ihm schien eine böse Vorahnung in der Furcht zu liegen, die ihn ergriff. Konnte ihr in diesem Moment etwas zugestoßen sein, zu Hause, tausende Seemeilen weit entfernt? War sie krank oder verunglückt?
Die meisten Menschen kannten das Gefühl, ein Kind zu verlieren, ihm und Anna Egidia war diese große Trauer bisher jedoch erspart geblieben. War die Reihe nun plötzlich an ihm?
Der Gedanke beschäftigte ihn dermaßen, dass er aus seiner Koje aufstand, um an Deck auf und ab zu gehen.
»Irgendetwas nicht in Ordnung, Rasmussen?«, erkundigte sich der Kapitän.
Carl schüttelte den Kopf und setzte seinen rastlosen Gang fort. Das ganze Schiff kam ihm wie ein segelndes Gefängnis vor. Dann ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf. Ebenso gut könnte ihn ein Unglück ereilen. Die Vorstellung seines eigenen Todes beruhigte ihn eine Weile. Im Grunde war ihm diese Idee vertraut, die natürliche Verlängerung der Unruhe, die ihn bereits die gesamte Reise quälte. Ging es ihm denn nicht bereits wie einem lebenden Toten?
Ihn packte der Zorn über sich selbst. Ständig diese Selbstsucht! Jetzt ging es um die kleine Karla. Würde es ihr guttun, ohne ihren Vater aufzuwachsen? Wie konnte er auch nur einen Augenblick den Gedanken wagen, den leichtesten Ausweg suchen zu wollen? Das Leben war niemals leicht, aber man durfte sich nie seinen Pfichten entziehen. Bestand nicht genau darin der Fluch der Künstlerseele, dass sie so schlecht mit den elementaren Forderungen des Daseins zurechtkam?
Um sich selbst zu beruhigen, setzte sich Carl in die Kajüte und schrieb einen Brief an seine Tochter. Obwohl sie im Dezember erst vier Jahre alt wurde und weder lesen noch schreiben konnte, gab er sich Mühe mit seiner Schrift.
»Meine liebe kleine Karla!«, begann er und musste innehalten, weil seine Hand zu zittern begann.
Nach einer Weile setzte er den Stift wieder aufs Papier: »In Gedanken sehe ich Dich umhergehen und mit Deinen Puppen spielen, die Du so gern hast; wenn Du jedoch groß bist, wirst Du auf eine andere Weise spielen. Du wirst mit Gleichaltrigen spielen, und ich hoffe, dass sie Dich mögen werden und Du ein guter und lieber Mensch wirst, der vor den Augen Gottes und der Menschen Gnade findet.«
Wieder unterbrach er sich. Welchen Sinn hatte dieser Brief? Er würde ihn doch selbst überbringen, es sei denn, er änderte erneut seine Meinung und blieb in Kopenhagen. Was sollte ein dreijähriges Mädchen mit einem Brief von ihrem Vater, wenn der quicklebendig vor ihr stand?
Schrieb er ihn für sich, als eine Beschwörung des Bösen, das ihm Karla wegnehmen könnte?
»Jetzt bin ich schon wie ein Eskimo«, dachte er, »ich beschwöre die Geister.«
Carl schob den Brief zur Seite und starrte eine Weile vor sich hin. Dann ging er erneut an Deck. Doch ihm kam es vor, als würde der Anblick der vorbeigleitenden Wellen und die langsame Fahrt des Schiffes seine Unruhe nur aufs Neue anfachen. Eine Woge der Angst trieb ihn zurück in die Kajüte. Er blickte auf die Zeilen und setzte sich erneut an den Brief für Karla. Noch immer beschäftigten ihn die Ermahnungen hinsichtlich ihrer Zukunft.
»Du
Weitere Kostenlose Bücher