Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
wirst in Deinem Tun feißig und eifrig sein, vor allem, wenn Du an Gott festhältst und nicht vergisst, Dein tägliches Morgen- und Abendgebet zu sprechen und an Ihn zu denken, der alle Menschen und die ganze Erde geschaffen hat. Ja, denk oft an Ihn, so wirst Du niemandem zornig sein, sondern alle gern haben, vor allem Deine Mutter, Deine Großmutter und all deine lieben Geschwister. Sie lieben Dich alle so sehr wie ich.«
Er sah Karla vor sich. Jetzt schlief sie bestimmt, mit dem Kopf auf dem großen Kopfkissen, das kurze Pagenhaar vom Schlaf verschwitzt. Sie hatte pummelige Glieder und dicke Wangen. Ihre langen dunklen und dichten Wimpern ruhten im Schlaf wie zwei weiche Schmetterlingsfügel auf ihren Wangen.
»Wenn ich Dich wecken könnte«, fuhr Carl in seinem Brief fort, »würdest Du spüren, wie ich Dich in den Arm nehme, Dich küsse und streichele und meine Hand segnend auf Deinen Kopf lege. Ich würde mir Dir spielen, Dir all meine Bilder zeigen und Dir so viel Gutes über unseren Herrgott und die ganzen Dinge, Menschen, Tiere und Pfanzen erzählen, die es auf dieser großen Erde gibt. Sie alle sind durch die Liebe erschaffen, denn die Liebe ist es, die uns alle aufrechterhält und stärkt.«
Als er die letzten Sätze geschrieben hatte, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Gefühlsausbruch war so ungewohnt, dass sein Erschrecken darüber das Weinen nur noch verstärkte. Er hatte vollkommen das Gleichgewicht verloren. Was ging bloß mit ihm vor?
Er riss sich zusammen, als er Schritte auf der Leiter zur Kajüte hörte. Vermutlich war es Thomsen, der eine Seekarte holen wollte.
Carl konzentrierte sich auf den Brief und tat so, als wäre er zu tief in Gedanken versunken, um den Kapitän zu bemerken. Doch die Schritte hielten inne. Er hatte das seltsame Gefühl, dass dort draußen jemand stand und ihn beobachtete. Er wollte fragen, wagte es aber nicht aus Angst, dass seine Stimme ihn verriet und er wieder von seinen Gefühlen überwältigt wurde, die er nur mit Mühe beherrschen konnte.
Vor der Kajütentür blieb es still. Wer auch immer die Leiter hinuntergekommen sein mochte, stand nun regungslos da. Nicht einmal ein Atemzug verriet die Anwesenheit eines anderen. Dann hörte Carl, wie die Schritte die Leiter wieder hinaufstiegen. Der ewig polternde Kapitän konnte es nicht sein. Eher klang es wie ein großes Tier, das auf weichen Pfoten seine Beute anschleicht.
Ein tiefer Seufzer entfuhr Carl. Er fürchtete, dass er wieder anfangen würde zu weinen. Er riss sich zusammen. Mit leerem Blick starrte er auf die Tischplatte. Nach einer Weile geriet der Brief in sein Blickfeld. Warum weinte er nur? War es die Sehnsucht, diese verwundbarste Seite seines Wesens, der er sich jetzt hemmungslos überließ? Oder lag es an diesen übernatürlichen Vorahnungen? Hatte er sich vollkommen in die Gewalt des Aberglaubens begeben, um seiner allmählichen Auslöschung entgegenzugehen?
Er las, was er gerade geschrieben hatte, und ahnte den Grund seiner Tränen. Er beweinte sich selbst. Oh ja, er hatte an ein Kind geschrieben. Der Brief an Karla hatte diesen Ton der einfältigen Innerlichkeit, den man braucht, wenn man zum Herzen eines Kindes sprechen will. Doch aus seinem eigenen Herzen kam es nicht. Nicht mehr. Sicher, er glaubte noch immer an das Werk des Schöpfers, aber dass die Welt durch Liebe erschaffen wurde, daran mochte er nicht mehr glauben. Andere Kräfte waren im Spiel, ein andauernder Kampf, nur, er kannte die Kämpfenden nicht. Aber ein Kind hatte an diese Worte über die Liebe zu glauben, wenn es ein wahrer Mensch werden sollte. Er selbst konnte es nicht mehr. Er war ein Vater, der heucheln musste, wenn er zu seinen Kindern sprach. Er fühlte sich schmutzig und gleichzeitig furchtbar einsam. Auch zwischen ihm und seinen Kindern öffnete sich nun eine unüberwindbare Kluft.
Carl schloss mit einem Gruß, dessen Überschwang ihn selbst überraschte: »Am Schluss wünsche ich Dir all das Gute, das Deiner Seele und Deinem Körper wahren Nutzen bringen soll. Meine liebsten Grüße. Dein Vater.«
Er unterschrieb mit seinem vollen Namen J. E. C. Rasmussen, und plötzlich fiel ihm auf, dass die Unterschrift unter Karlas Brief der Signatur seiner Gemälde ähnelte. Vielleicht handelte es sich ja bei dem Brief an die Tochter lediglich um ein weiteres Bild in dem idyllischen Stil, für den er inzwischen berühmt war; um einen letzten Tribut an den Kunstsinn, den er in seiner Jugend gefunden und seither
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