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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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er lachte, sprühte ihm der Speichel wie Gischt aus dem Mund und hinterließ kleine weiße, feuchte Perlen in seinem dünnen, verfilzten Bart. Wie so viele andere in der Stadt verdiente er seinen Lebensunterhalt als Skipper, und bei einer der seltenen Gelegenheiten, an denen er zu Hause in der Møllegade war, hatte er die Familie seines Bruders aus Ærøskøbing zum sonntäglichen Mittagessen eingeladen. Von den Kindern nahm nur Carl, der Älteste, daran teil. Der Vater war der Ansicht, es gehöre sich nicht, das enge, niedrige Haus des Bruders mit seiner zahlreichen Kinderschar zu bevölkern.
    Onkel Ras war beleidigt. Glaubte sein Bruder etwa, er wäre nicht imstande, die eigene Familie zu bewirten? Für ein Wurstende würde es noch immer reichen, selbst für das jüngste Besatzungsmitglied, polterte er, als er die kleine Gäste-Delegation vor seinem gelb gekalkten Haus auf der Straße empfing. Doch gleich darauf kehrte seine gute Laune zurück, und er versetzte Carl einen Willkommensschlag auf den Rücken, der ihn den schiefen Treppenstein aus schwarz geteertem Granit emporstolpern und kopfüber in den engen Flur stürzen ließ, wo er beinahe mit Tante Ermine zusammenstieß. Sie versteckte sich zur Feier des Tages hinter einer weißgestärkten Schürze, die sie bei den Vorbereitungen des Mittagessens vor Flecken hatte bewahren können.
    Während der Mahlzeit saß Carl stumm und steif am Tisch, als wollte er den schlechten Eindruck wettmachen, den er bei seinem überstürzten Eintritt hinterlassen haben musste.
    Das Sonntagsgericht bestand aus Reisgrütze und Eierkuchen. Johan Arenth Rasmussen warf seiner Ehefrau einen Blick zu. In Ærøskøbing aßen sie durchaus vornehmer.
    Onkel Ras zog Carl mit der kurzen Jacke und der grünen Weste auf, mit denen er seinen frisch erworbenen Status als Erwachsener zu unterstreichen suchte.
    »Du wächst deinem Vater bald über den Kopf«, sagte er, eine Bemerkung, die mehr Wahrheit enthielt, als er ahnte. Carl trug die Kleider des relativ kleinen Schneiders.
    »Hinrichsen hat ihn unter seine Fittiche genommen«, sagte der Vater mit feierlicher Miene.
    Onkel Ras schien die Mitteilung nicht zu beeindrucken. Stattdessen begann er, die Schiffsreeder aus Ærøskøbing wegen ihrer Vorsicht und ihrer Unfähigkeit, sich auf den neuen Frachtmarkt einzustellen, zu kritisieren. Für umtriebige Männer gäbe es genügend Möglichkeiten, aber die Reeder von Ærøskøbing würden sie nicht nutzen.
    Carl war verlegen und seine Verlegenheit wurde nicht geringer, als der Vater in einem verstimmten Tonfall ausführlich Hinrichsens zahlreiche Vorzüge darlegte. Dass auf Carl eine Zukunft als Maler wartete, beeindruckte den Onkel ebenfalls nicht. Kritisch musterte er Carl, der auf seinem Stuhl zusammengesunken war.
    »Der Junge braucht frische Luft«, erklärte er, und es war klar, dass es ihm dabei nicht nur um die kleine Stube mit den beschlagenen Scheiben ging.
    »Geh raus und schau dir die Stadt an«, forderte er ihn auf.
    Erleichtert erhob sich Carl vom Tisch. Im Flur schnallte er sich seinen Tornister auf, bei dem es sich samt seines Inhalts mit Skizzenblock, Blei- und Kohlestiften um ein Geschenk Hinrichsens handelte. Alles war zusammen mit einer Staffelei, Leinwänden, Ölfarben, Malkasten, Palette und Pinseln mit Erichsens Paketboot aus Kopenhagen gekommen. Den Tornister trug Carl immer bei sich, obwohl er heute lieber eine sonnige Ecke finden wollte, wo er sich ungestört der Lektüre von Ingemanns Buch hingeben konnte, das wie gewöhnlich in seiner Jackentasche steckte.
    Schon bald nahm ihn allerdings die Erkundung des Orts in Anspruch, der sich deutlich von Ærøskøbing unterschied. Seine eigene Stadt fand er wesentlich schöner. Die stattlichen Erkerhäuser entlang der Vestergade in Ærøskøbing hatten keinerlei Pendant in Marstal. Auch hier ragten mit Ziegeln gedeckte Dächer steil in die Luft, doch er sah überall die gleichen niedrigen Häuser mit ihrem Fundament aus schwarz geteerten Feldsteinen, die sich unter der Last der Dächer duckten. Für Bürgersteige war kein Platz mehr geblieben. Die Häuser schoben sich unordentlich in die Straßen, ohne sich an einer geraden Linie auszurichten – so hinterließ ein Kind seine Bauklötze, wenn es müde war vom Spielen und vergessen hat, hinter sich aufzuräumen.
    Marstal hatte man auf einem Hügel gebaut, und der einzige Plan für die Stadt schien gewesen zu sein, dass alle Straßen wie das Wasser nach unten liefen, um dort zu enden,

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