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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ähnlich. Der Dicke kam näher. Auch ihm gab er die Hand. Er hatte einen schwammigen, feuchten Händedruck erwartet. Stattdessen war die Hand trocken, als wären die Fleischmassen und der hündische Gesichtsausdruck nicht die ganze Wahrheit über den dicken Jungen. Er hieß Lorentz. Carl erhielt sein Buch zurück und steckte es in die Jackentasche.
     
    Sie nahmen ihn mit zu einem Strand, den sie Halen nannten. Es handelte sich um eine Landzunge aus Sand, die sich wie ein langer, beschützender Arm um den Hafen zog. Dabei erzählten sie ihm von der Stelle, die sie das Grab des Russen nannten. Während des Krieges mit den Deutschen hatte ein russisches Schiff in der südlichen Fahrrinne vor Anker gelegen.
    »Die Russen waren ja unsere Verbündeten«, erklärte Jonas mit dem wissenden Gesichtsausdruck eines Erwachsenen.
    Einer der russischen Offiziere hatte einen Matrosen der Meuterei beschuldigt und ihn niedergeschossen. Die Russen gehörten einer anderen christlichen Glaubensrichtung an als die Dänen. Daher wurde der Tote nicht auf dem Friedhof begraben, sondern im Sand von Halen. Es hieß, die Männer hätten um eine Dienstmagd von der Insel Strynø gestritten, in die sich beide verliebt hatten. Sie mochte den Matrosen lieber, also hatte der Offizier seinen Rivalen ausgeschaltet. Nur eine Erhöhung im Sand markierte die letzte Ruhestätte des Russen; aber irgendjemand hatte wilde Rosen auf sein Grab gepfanzt und mit weißen Steinen im Sand ein Kreuz angedeutet. Auf einem größeren Stein stand das Wort Vladimir, so hatten sie den Namen des Ermordeten erfahren. Jetzt ging der Tote mit seinem zerschossenen Schädel auf Halen um, in hellen Sommernächten hatten ihn viele dort schon gesehen.
    Die Dienstmagd war längst verschwunden. Sie war nach Strynø zurückgekehrt, als sie ein Kind erwartete. Und nun kam niemand mehr, um nach dem Grab des Russen zu sehen. Die Jungen nutzten die Gelegenheit und hatten das Grab zu ihrem Treffpunkt gewählt. Die weißen Steine des Kreuzes legten sie jedes Mal um, wenn sie zum Strand kamen. An diesem Tag grinste ihnen ein Totenkopf entgegen. Es sollte wohl ein Porträt des Toten sein.
    »Was hast’n du in dem Tornister?«, wollte Niels Peter wissen, als sie sich um das Grab gesetzt hatten.
    »Meine Zeichensachen.«
    Carl nahm den Tornister ab und stellte ihn vor sich in den Sand. Dann öffnete er ihn und zog den Skizzenblock heraus. Sie drängten sich um ihn.
    »Was is’n das für ein Buch?«, fragte Albert.
    »Das ist kein Buch. Das ist ein Skizzenblock.«
    Er schlug den Block auf und begann, darin zu blättern. Sie rückten näher an ihn heran. Er hatte Häuser und Straßenzüge in Ærøskøbing gezeichnet, Schiffe mit gesetzten Segeln auf dem Weg aus dem Hafen – und Wolken. Er liebte die Wolken, ihre beständig wechselnden Formen luden seine Fantasie ein, ungehindert ihre eigenen Wege zu gehen.
    Es gab auch ein Porträt von Hinrichsen. Carl hatte ihn im Hafen gezeichnet, im Hintergrund die Stadt mit den großen Erkerhäusern der Vestergade. Hinrichsen stand mit gespreizten Beinen und hochgeschlagenen Rockschößen da. Die Hände hielt er auf dem Rücken, und er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihm die ganze Stadt gehörte. Perspektivisch zu zeichnen, hatte Carl noch nicht richtig gelernt. Die abfallende Vestergade sah aus, als ob sie direkt in den Himmel führte.
    Die Zeichnung hatte er als Vorstudie zu seinem ersten Ölgemälde angefertigt. Das Gemälde hatte er Hinrichsen geschenkt. Über dem Sofa hing es zwar nicht. Aber es hatte einen Platz im Entree gefunden; es war das Erste, was die Gäste sahen, wenn sie das Haus betraten.
    »Das nächste Bild«, sagte Hinrichsen, »hänge ich auf die Hälfte der Treppe. Um zu zeigen, dass du auf dem Weg bist.«
    Carl errötete. Er verstand, was sein Wohltäter meinte: auf dem Weg in die erste Etage, zum Ehrenplatz über dem Sofa, dem höchsten für die Kunst erreichbaren Ort.
    Niels Peter nahm ihm den Skizzenblock ab und hielt sich die Seiten dicht vor sein lädiertes Gesicht.
    »Wer hat dir das geschenkt?«, wollte er wissen.
    »Ich hab sie selbst gezeichnet.«
    In Carls Stimme lag eine gewisse Kühnheit, er richtete sich auf.
    »Bist ziemlich gut im Zeichnen.«
    Niels Peter betrachtete Carl mit einem prüfenden Blick aus seinen tief liegenden Augen. Seine vernarbten Augenbrauen zogen sich zusammen, als würde seine Fähigkeit, etwas zu begreifen, einer unerwarteten Probe unterzogen.
    Die Jungs beschäftigten sich erneut mit

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