Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
wo es einst einen Strand gegeben hatte. Nun aber lagen hier Hafenkais und Werften, die von einer kilometerlangen Mole geschützt wurden. Hätte er einen Fassreifen gehabt – dafür war er natürlich längst zu alt -, hätte er ihn nur loslassen müssen, er wäre allein den Hügel hinuntergerollt und mit einem Plumps im Hafenbecken verschwunden. Offenbar war den Männern der Stadt das gleiche Schicksal vorbestimmt. Jedenfalls gab es in Marstal weit mehr Seeleute und registrierte Schiffe als in Ærøskøbing, obwohl beide Städte am Meer lagen und ungefähr die gleiche Einwohnerzahl aufwiesen.
Er war eine Weile in den Straßen umhergegangen, als er bemerkte, dass ihm ein paar Jungen folgten. Vier oder fünf. Der Älteste war so groß wie er, die anderen mochten ein paar Jahre jünger sein. Ein dicker Junge mit einem feuerroten Streifen quer über dem Gesicht drückte sich am Rand der Gruppe herum, als wüsste er nicht so genau, ob er dazugehörte oder nicht.
Carl war ein Fremder. Hielt er es für ein Begrüßungskomitee, das jeden Moment ein Ehrentor für ihn errichten und eine Rede halten würde? Wohl kaum. Er machte sich keine Gedanken über ihre Motive, ihm zu folgen. Obwohl sie alle auffällige Narben und Schrammen im Gesicht und an den Händen hatten, warnte ihn in diesem Moment weder sein Instinkt noch seine Erfahrung. Er spannte seine Muskeln nicht an, wie die meisten Jungen es getan hätten. Ungerührt setzte er seinen Spaziergang durch die Stadt fort.
Plötzlich bildeten sie einen Kreis um ihn. Verstohlen schauten sie sich um, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete. Dann sangen sie einen Kinderreim, dessen Sinn er nicht verstand. Niels, Niels Schneckenhorn, lauteten die ersten Worte. Der Ton hatte etwas Bedrohliches. Carl blickte sie verwundert an und wollte gerade fragen, was sie wollten, als der Größte ihm zuvorkam.
»Wo kommste denn her?«
Hohn lag in der Stimme. Er schubste Carl, als wollte er ihn auffordern, zur Seite zu gehen.
»Ærøskøbing.«
Der Junge beugte sich drohend vor, als bereite er sich vor zuzuschlagen. Er war breitschultrig und hatte tief liegende Augen. Eine weiße Narbe spaltete eine der Augenbrauen. Seine Stirn wies eine halb verheilte Wunde auf, als hätte er die Angewohnheit, ununterbrochen mit dem Kopf gegen eine Mauer zu rennen.
»Dann biste wohl richtig scheißwichtig, was?«
Carl starrte ihn verständnislos an. Aber noch bevor er reagieren konnte, bekam er einen harten Stoß an die Schulter. Diesmal verlor er das Gleichgewicht und setzte sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck auf die Straße. Das Steißbein tat ihm weh, als er mit seinem Hinterteil auf das holprige Pfaster schlug, er schnitt eine Grimasse. Er blickte die Jungen verwundert an. Er verstand nicht, was hier vorging, und reagierte weder erschrocken noch wütend. Er fühlte sich nicht einmal gekränkt.
Viele Jahre später fragte er sich, was wohl passiert wäre, wenn er sich aufgerichtet und zurückgeschlagen hätte. Dieser Gedanke lag ihm damals vollkommen fern, im Grunde war es undenkbar gewesen.
»Seht mal, er hat ein Buch!«
Einer der Jungen zeigte auf seine Jackentasche. Er war fast so groß wie der Junge, der Carl geschubst hatte, aber irgendetwas in seinem Gesicht verriet, dass er mehrere Jahre jünger sein musste. Seine Züge waren weder weich noch unausgeprägt, und doch lag eine Empfänglichkeit in seinem Blick, die nichts mit dem kampfbereiten Gesichtsausdruck des größeren Jungen zu tun hatte.
Carl erhob sich.
»Liest du Bücher?«
Die Frage verwirrte Carl.
»Ja.«
Sie sahen sich an und grinsten verlegen.
»Können wir mal sehen?«
Carl reichte ihnen das Buch.
»Es gehört mir nicht«, sagte er, als wollte er sie auffordern, vorsichtig mit dem Buch umzugehen.
Der älteste der Jungen griff nach dem Buch und reichte es weiter.
»Was steht da?«
Der Junge, der Carls Buch als Erster gesehen hatte, sah es sich genau an.
»Das ist schwierig«, sagte er langsam. » Der Wolkenhimmel.«
Die Worte kamen zögernd. Bei dem verzwickten Untertitel musste er passen.
»Kommst du mit zum Grab des Russen?«
Er schaute von dem Buch auf.
»Ja, warum nicht.«
Carl wusste nicht, worum es sich bei dem Grab des Russen handelte. Aber er spürte, dass sie ihm ihren Kreis öffneten. Er stimmte zu, um eintreten zu können.
Er nannte seinen Namen und gab jedem Einzelnen die Hand. Nacheinander stellten sich die Jungen vor. Niels Peter, Albert, Anders. Johan und Josef sahen sich
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