Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
dem Block. Die Schiffe erregten ihr besonderes Interesse. Mit den Fingern folgten sie dem Tauwerk der Riggs und füsterten miteinander. Carl begriff, dass sie die Schiffszeichnungen prüfend betrachteten. Sie suchten nach Fehlern in der Takelage und der Segelstellung, aber er konnte stolz sein, denn ihm war klar, dass sie nichts finden würden. Er wusste seine Augen einzusetzen.
Bei den letzten Skizzen handelte es sich um Wolkenstudien.
Dann hörte er ihre Stimme. Sie rief nicht ihn, aber wenn er später daran zurückdachte, hatte er jedes Mal das Gefühl, als hätte sie ausschließlich ihn treffen wollen.
Ein Ruck durchfuhr die Jungen. Sie sahen sich an – und blickten in eine andere Richtung, als ob sie gemeinsam beschlossen hätten, diesen merkwürdigen Anblick zu ignorieren.
Sie wackelte und wankte durch den lockeren Sand des Strandes und hielt sich jedes Mal den Fuß, wenn sie an einen Stein stieß. Ihr Blick war aufs Wasser gerichtet, als ob sie darauf wartete, dass sich am Horizont ein Wunder ereignete. Die Unzahl wollener Schals, in die sie sich gewickelt hatte, ließen sie eher wie ein vornübergebeugtes Tier als wie einen Menschen erscheinen. Ihr Gesicht war eingefallen und wirkte als gehöre es zu einem anderen Körper als dem unförmigen Bündel, aus dem es herausragte.
»Karo, Karo!«, rief sie mit dünner, klagender Stimme übers Wasser.
Johan kam auf die Beine und wandte sich an seinen Bruder.
»Wir müssen sie nach Hause bringen.«
Josef erhob sich unwillig. Er ließ die Schultern hängen und wich den Blicken der anderen aus. Die Brüder gingen auf die Frau zu und nahmen sie unter den Arm.
»Komm, Mutter, wir müssen heim.«
»Was?«, sagte sie mit einer schläfrigen Stimme. »Habt ihr Karo gefunden?«
»Komm jetzt!«
Josef zog sie ungeduldig am Arm.
Sie begann, lauthals zu jammern. »Mein Karo, mein Karo.« Der Rest der Gruppe war ebenfalls aufgestanden. Mit den Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern marschierten sie auf die andere Seite der Landzunge, um dem Anblick zu entgehen. Sie blieben stehen und starrten hinüber zur Stadt. Es zuckte in ihren lädierten Gesichtern. Kämpften sie, um sich das Lachen zu verbeißen? Oder gab es einen anderen Grund?
»Verdammtes Weibsstück«, sagte Niels Peter.
In seiner Stimme klang eher Schrecken als Hass.
»Was ist mit ihr los?«, erkundigte sich Carl.
»Sie ist verrückt, siehst du das nicht?«
Niels Peters Stimme bebte jetzt vor Zorn. Dennoch trieb die Neugierde Carl zu einer weiteren Frage.
»Wer ist sie?«
Niels Peter starrte stumm vor sich hin.
»Die Frau des Lehrers, Frau Isager. Sie sucht nach ihrem Hund. Er ist …«
Albert hatte anstelle von Niels Peter geantwortet. Er hielt mitten im Satz inne. Irgendetwas ließ ihn zögern.
Dann kam es doch noch.
»… er ist tot.«
»Er ist nicht tot«, widersprach Niels Peter in einem zurechtweisenden Ton und warf Albert einen warnenden Blick zu.
»Er ist nur verschwunden. Niemand weiß, wo er ist.«
»Ja, er ist nur verschwunden«, wiederholte Albert. »Sie ist verrückt, seit es in der Skolegade gebrannt hat.«
»War das nicht in einer Silvesternacht? Damals konnten wir den Brand bis Ærøskøbing sehen. Wir glaubten erst, die Sonne wäre mitten im Winter nachts aufgegangen. Dann dachten wir, ganz Marstal stünde in Flammen.«
»Es war bloß die Skolegade«, sagte Niels Peter, als wäre eine brennende Straße eine Bagatelle, die es nicht verdient hatte, dass weitere Worte darauf verschwendet wurden.
Die Jungen schüttelten sich, als würden sie frieren. Dann gingen sie zurück zur Stadt.
Carl folgte ihnen im Abstand von ein paar Metern. Irgendetwas wollten sie ihm nicht erzählen. Das spürte er. Aber er fragte nicht nach.
S ie brachten ihn zum Klotschenmann, der an der Ecke Lærkegade und Kirkestræde Holzschuhe verkaufte. Auch Schleifsteine und Brustzucker gehörten zum Sortiment des verwahrlosten Ladens, aber die eigentliche Attraktion war der Klotschenmann selbst. Ihm fehlten nämlich beide Ohren, oder besser gesagt, er besaß nur noch die Ansätze von Ohren. Sie saßen an seinem Kopf wie zwei nicht aufgesprungene Blütenknospen, deren Wachstum unterbrochen wurde, bevor sie Zeit fanden, sich zu entfalten.
Er hatte etwas zu lange Ohren, erklärten die Jungen in vertraulichem Ton, der verriet, dass Carl nun in ein Geheimnis eingeweiht wurde. Der Klotschenmann hatte Dinge gehört, die er besser nicht gehört hätte, oder die er jedenfalls nicht hätte
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