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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Händen und fingen an zu tanzen. Sie begrüßten die Sonne. Ja, mein lieber Ryberg, es handelte sich um Heiden. Alles sehr anständige Menschen.«
    Die Stricknadeln klapperten in den Händen des Kapitäns. Mit dem Glattstricken kam er rasch voran.
    »Anständige Menschen«, der Steuermann verzog den Mund.
    »Ja, ja, ich weiß, dass sie in Sünde lebten«, sagte der Kapitän in nachsichtigem Ton. »Und trotzdem nenne ich es ein Paradies.«
    Er wandte sich an Carl, als hätte er den Steuermann aufgegeben.
    »Des einen Himmelreich, des anderen Hölle. Und umgekehrt. Ich dachte, die Geschichte würde Sie interessieren.«
    »Sagen Sie, haben Sie die Schwarzen in ihrem Paradiesgarten vors Schienbein getreten?«
    »Nein, das war in Port au Prince, Haiti.«
    »Ich kannte mal einen französischen Maler, der dachte genau wie Sie. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Aber ich würde Sie gern etwas fragen. Wieso sind Sie nicht in Ihrem Paradies geblieben? Wieso begegnen wir uns hier, mit Kurs auf treibende Eisfelder?«
    Die Stricknadeln unterbrachen ihr Klappern.
    »Eine gute Frage, Rasmussen. Eine verdammt gute Frage. Ich habe mich seither dasselbe gefragt, und ich werde mir die Frage noch an dem Tag stellen, an dem ich auf dem Sterbebett liege.«
    »Der Kapitän sollte lieber fragen, was Gott mit ihm vorhat.«
    »Du hältst jetzt die Klappe, Ryberg. Hier unterhalten sich ernsthafte Menschen.«
    Thomsen schaute den Steuermann nicht an, der brüsk aufstand und den Salon verließ, ohne den Kaffee abzuwarten, während der Kapitän seinen Gedankengang ungerührt wieder aufnahm.
    »In Grönland fühle ich mich oft weit weg von zu Hause. Aber wissen Sie was, Rasmussen? Ich denke dann bestimmt nicht an Fanø. Sondern an das Korallenbecken in Guadeloupe. Da gehöre ich hin. Wieso bin ich nicht dort geblieben? Ich geh mal davon aus, weil ich so bin, wie ich bin. Ein Schiff kommt überall hin auf der Welt. Aber wir Menschen sind nicht so beweglich, wie wir glauben. Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll. Wir können uns selbst nicht entkommen. Spüren Sie das nicht auch, Rasmussen? Sie sind früher in Grönland gewesen. Irgendetwas muss Sie doch anziehen. Vielleicht haben Sie ja dort oben etwas Ähnliches erlebt wie ich auf Guadeloupe?«
    Carl schüttelte energisch den Kopf.
    »Na ja, ich will Sie nicht aushorchen. Ich bin diskret. Das muss ein Kapitän gegenüber seinen Passagieren sein. Aber Sie sind nicht in Grönland geblieben. Sie haben sich dort nicht angesiedelt. Sie können auch nicht aus Ihrer Haut. Tja, was wollen wir hier auf Erden? Eine verdammt gute Frage. Vielleicht haben wir gar keine so große Wahl, wie wir uns einbilden.«
    Die Stricknadeln nahmen ihr Klappern wieder auf. Der Schiffsjunge kam mit einem Tablett und schenkte Carl Tee ein. Er nippte vorsichtig an der heißen Flüssigkeit.
    »Gibt es auch Milch?«, erkundigte er sich.
     
E in Künstler muss heraus, und Carl kam heraus. Er kam bis nach Marstal, nur zwölf Kilometer entfernt. Und doch sollte es die längste Reise seines Lebens werden. Von ihr kehrte er nie wieder zurück. Er hatte an so vielen Orten gewohnt und gemalt. Er hatte immer nach einem Zuhause gesucht. Aber was ist für einen Künstler ein Zuhause? Ist es das Vaterland oder das Volk, dessen Sprache und Geschichte er teilt? Ist es überhaupt ein geografischer Ort oder eher eine Idee – sein Atelier, die Brechung des Lichts, und, da er nun mal Maler ist, das Spiel der Farben? Fand er sein Heim in den Wolken?
    Er blieb auf der Suche. Am längsten in Marstal, doch dort gehörte er nicht hin, dort hatte seine Heimatlosigkeit begonnen.
     
    Kurz, nachdem er Hinrichsens Aufmerksamkeit erregt hatte und dank seines Wohltäters in den Kreis der Erwachsenen getreten war, passierte es. Carl besuchte seinen Onkel in Marstal, Rasmus Rasmussen. Obwohl der Name klang, als würde er stottern, handelte es sich bei Onkel Ras, wie er genannt zu werden verlangte, keineswegs um einen unsicheren Mann. In seinen Manieren und seiner Sprache war er in einem Maß geradeheraus, dass diese Offenheit sich leicht mit einem Mangel an Kinderstube verwechseln ließ – also das genaue Gegenteil von Carls Vater mit seiner verbissenen Prinzipienreiterei und dem ständigen Schielen auf die Form. Als würde das Leben aus nichts anderem bestehen als aus geraden Rocksäumen und der schwierigen Wahl zwischen algiergrau und russischgrün.
    Onkel Ras hatte immer einen roten Kopf. Ein inneres Glühen ließ ihn aufeuchten, und wenn

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