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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Anteilnahme und Sorge.
     
    Carl ließ sich den Bart wieder wachsen. Und siehe da! Er wuchs dichter als zuvor. Carl fühlte sich in jeder Hinsicht erwachsen, Schüler an der Königlich Dänischen Kunstakademie, ein Mensch mit einem Lebensziel. Seine Beharrlichkeit hatte sich gelohnt. Die Zeit der Winkelzüge und des Zweifelns war vorbei.
    Zumindest bis sie wieder begann.
     
    Ein Künstler hatte ständig seinen Wert zu beweisen. Carl war der Ansicht, eine Strecke zurückgelegt zu haben, doch es erging ihm wie Achill in Zenons Paradoxon, als der griechische Held mit einer Schildkröte um die Wette läuft, der aufgrund ihrer Langsamkeit ein kleiner Vorsprung zugestanden wird. Jedes Mal, wenn Achill die Distanz zurückgelegt hat, die ihn ursprünglich von der Schildkröte trennte, hat die sich ein paar schleppende Schritte vorwärtsbewegt. Wieder muss er sie einholen, aber erneut ist sie ein Stück vorangekommen, und so setzt es sich fort in der sinnlosen Ewigkeit der Mathematik, bis ihn nur noch ein unendlich kleiner Bruchteil von seinem Ziel trennt, von der elenden Schildkröte, die er niemals erreichen wird. In der Kunst ist die Schildkröte das Vollkommene, die Perfektion. Immer gibt es etwas, das trennt, einen ständig schwindenden Bruchteil, der niemals verschwindet und niemals gleich null wird. Denn die Schönheit der Natur übertrifft man nicht. Sie bewahrt ihren Vorsprung.
    In der realen Welt ergab das Beispiel aus der Mathematik keinen Sinn, aber in der Kunst schon. Carl hatte die Akademie erreicht, zur Kunst war er noch immer nicht vorgestoßen. Wie lange musste er noch laufen? Wie viel gab es noch zu lernen?
    Er hatte sich einmal mit einem Schiff verglichen, das Kurs zu halten versucht, ohne Wind in den Segeln zu haben. Nun war der Wind gekommen, aber das Schiff lag noch immer vertäut am Kai. Den Hafen hatte er noch gar nicht verlassen. Er begriff es bereits am ersten Tag.
     
    Es war ein schöner Oktobertag. Die Sonne schien auf das noch nachtfeuchte Pfaster des Kongens Nytorv. Carl war früh aufgestanden und hatte sich herausgeputzt, als wäre er zu einem königlichen Ball geladen. Auf der Straße stand Henrietta und erwartete ihn. Sie nahm ihn bei der Hand. Zum ersten Mal hielten sie sich auf der Straße an den Händen, er registrierte es nicht. Sie kamen viel zu früh und gingen eine Weile in den Straßen um den Kongens Nytorv spazieren. Beide sagten kein Wort. Nach einer Weile bemerkte Carl plötzlich, dass ihre Hand in seiner lag, aber er vergaß es sofort wieder.
    Aus der Østergade traten sie auf den Kongens Nytorv und schauten hinüber auf Schloss Charlottenborg. Das große rote Gebäude der Akademie mit den beiden Flügeln und dem Tor in der Mitte sah aus, als würde es ihn mit offenen Armen empfangen. Die Bäume des Platzes hatten ihre Blätter noch nicht verloren, doch der Herbst hatte sie bereits mit seinem Atem gestreift und mit einer ersten Röte entfammt.
    So viel hatte sich in Carls Leben ereignet, seit diese Blätter zarte Knospen waren.
    Henrietta drückte vorsichtig seine Hand zum Abschied.
    »Viel Glück«, wünschte sie und wollte ihn umarmen, aber Carl hatte sich bereits umgedreht.
    Er ging an der Torwache vorbei, die sich fröstelnd in einen dicken Mantel gewickelt hatte, als hätte der Winter bereits begonnen, und stand in dem gepfasterten Hof. Männer jeden Alters hasteten an ihm vorbei. Einzelne gingen zögernd, wobei sie sich neugierig umsahen. Neue Schüler wie er. Wenn jemand sie direkt ansah, wandten sie den Blick ab und gingen mit einstudierter Lässigkeit weiter, als wären sie hier zu Hause. Die meisten schienen jünger zu sein als er, er fühlte sich sehr erfahren. Sicherlich hatte er mehr durchmachen müssen als sie.
    Carl begann in der sogenannten ›gewöhnlichen Vorbereitungsklasse‹, und groß war seine Enttäuschung, als er in einen schummrigen, schmutzigen Raum trat, der lediglich mit Staffeleien und hohen dreibeinigen Schemeln ausgestattet war. Die Schemel hatte man in einem Halbkreis um eine Sammlung von Torsi und Köpfen aus Gips aufgestellt, bei denen sich über Jahre niemand die Mühe gemacht zu haben schien, sie einmal abzustauben. Ein hageres Männchen in einem zerschlissenen Überzieher ging umher und erteilte den Schülern, die auf die hohen Schemel kletterten, Anweisungen.
    Carl blickte freimütig in das ungepfegte Gesicht.
    »Wir gehen nicht hinaus in die Natur?«, erkundigte er sich.
    »Ah, der junge Herr interessiert sich für die Natur?«
    Carl

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