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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Arme aus und verkündete, dass im Esszimmer serviert sei. Außer dem Gastgeberpaar waren sie zu viert. Holm bekam als Witwer Frederik Aagaards Ehefrau zur Tischdame, eine große vollschlanke Frau; sie hatte ihre roten Haare aufgesteckt und zeigte ihren entblößten weißen Nacken. Aagaard lehnte sich vertraulich hinüber zu Carl.
    »Sie haben ja gesehen, dass unserem Freund Frisch meine Bemerkung über Weinblätter gar nicht gefallen hat, ganz zu schweigen von meiner Bemerkung über all die Weinblätter, für die ich persönlich verantwortlich bin.«
    Er sprach mit Absicht so laut, dass alle am Tisch ihn anstarrten. Frisch zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase, wobei er versuchte, die Röte zu verbergen, die sich über seine eingefallenen Wangen ausbreitete.
    »Aber das liegt ja nicht daran, dass du eine besondere Abneigung gegenüber Weinblättern hegst, oder, Frisch? Sie kommen doch von der Pfanze, deren Früchte wir gleich genießen werden.«
    Aagaard blickte auf das gefüllte Glas vor sich. Frisch, der das Naseputzen beendet hatte, griff nach seinem Glas und hob es zu einem Trinkspruch.
    »Skål, auf Carl!«
    Carl senkte den Kopf. Jetzt wurde er rot. Sie prosteten sich mit Weißwein zu. Carl hatte sich noch immer nicht an den Geschmack gewöhnt und kämpfte, um nicht eine Grimasse zu schneiden. Ihm war schon klar, dass Frisch zu diesem Zeitpunkt nur einen Toast auf ihn ausbrachte, um die Aufmerksamkeit von Aagaards Redefuss abzulenken.
    Der hielt noch immer sein Glas in der Hand. Er beabsichtigte offensichtlich nicht aufzugeben, hob das Glas und betrachtete die Lichtrefexe.
    » In vino veritas«, sagte er. »So sagt man ja wohl. Ich habe ein neues Motto. In Weinblatt veritas.«
    Carl verstand nicht, worauf Aagaard hinaus wollte. Frisch, der wieder einen hektisch roten Kopf bekommen hatte, war sich dessen allerdings sehr wohl bewusst, das sah er.
    »Sehen Sie, verehrte Herrschaften, im Weinblatt steckt die Wahrheit über Frederik Aagaard: Ich bin Dekorationsmaler gewesen, und vorher war ich ein gemeiner Malergeselle. Habt ihr einen Begriff davon, wie viele Weinblätter ein Dekorationsmaler in einem langen Leben malen muss, ja selbst in einem kurzen? Die Landwirtschaftliche Hochschule, das Vestibül der Universität, die Studentenvereinigung, Frijsenborg, das bin alles ich gewesen. Weinblätter genug, um damit sämtliche vorzüglichen Weinberge Frankreichs zu füllen. Ja, Frisch, schau nicht so schockiert. Ich war Malergeselle. Dir gefällt es nur nicht, dass ich es verrate. Aber ein Künstler hat auch eine Biografie, und die besteht nicht nur aus den Ausstellungen, an denen er teilgenommen hat, oder aus den Sammlungen, in denen seine Gemälde hängen. Ich wage dies zu sagen, weil ich beim König hänge. Aber ich bin ein Malergeselle aus Odense, ich bin ein Schuhmachersohn aus Odense, und ich schäme mich dessen nicht. Ein Schuhmachersohn – wie Hans Christian Andersen. Und er verkehrt nun bei Königen und Fürsten. So wie ich. ›Aagaard‹, hat der König zu mir gesagt. ›Sie sind ein Prachtkerl als Maler.‹ Habt ihr gehört? Ich bin ein Prachtkerl. Das hat er mir geradeheraus gesagt, und ich bin ebenfalls geradeheraus, die Worte passen zu mir.«
    Er wandte sich an Carl.
    »Rasmussen, ich weiß ja ein wenig über Sie. Sie sind der Sohn eines Schneiders aus Ærøskøbing. Welche Zukunft erwartet den Sohn eines Schneiders von einer kleinen Ostseeinsel? Irre ich mich, wenn ich vermute, eine Anstellung als Schneider? Oder Manufakturhändler? Daran ist nichts Falsches. Wenn es nicht diese Geschichte mit der Kunst gäbe. Denn sie ist der große Gleichmacher. Sie stellt den Malergesellen mit dem König auf eine Stufe. Sie sichert dem Malergesellen sogar den Beifall des Königs. Den Respekt eines Königs – ist das nicht ein paar Weinblätter wert? Lasst uns darauf anstoßen. Auch du, Frisch.«
    Frisch erhob sein Glas mit einem erleichterten Gesichtsausdruck. Er sah aus wie ein Mann, der gerade eine Zahnextraktion hinter sich hatte. Carl verstand ihn gut. Auch er war peinlich berührt. Wieso musste das so breitgetreten werden? Aber vielleicht lag auch etwas Befreiendes in Aagaards Freimütigkeit? Er hatte sich ja selbst ebenfalls bloßgestellt. Im Grunde mutig. Man müsste nur Zeit haben, über seine Worte nachzudenken.
    Doch Aagaard war noch nicht fertig mit ihm. »Es werden noch Jahre vor dem toten Gips mit Zeichen- und Malübungen vergehen«, sagte er. »Sie werden ein alter Graubart sein, bevor Sie

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