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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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nickte.
    »Sehen Sie diesen Sockel dort?«
    Er wies auf einen Frauentorso, den mehrere Schüler bereits zeichneten.
    »Sieht er das Blatt?«
    Eine Weinranke schlang sich um den Sockel.
    »Welches von ihnen?«, fragte Carl. Er verstand nicht, worauf das Männlein hinauswollte.
    »Das oberste von links an dem Zweig.«
    Wieder nickte Carl. »Ja, das sehe ich.«
    »Nun ja, dann kann er es auch abzeichnen, wenn er sich so an der Natur erfreut.«
    Carl kochte. Dieser kleine garstige Mann nahm ihn also nicht ernst. Aber er wollte ihm zeigen, mit wem er es zu tun hatte. Wie die anderen Schüler begann er demonstrativ, den Frauentorso zu zeichnen. Einige Zeit später kehrte der Mann zurück. Stumm stand er eine Weile vor Carls Staffelei. Dann hob er eine schmutzige Klaue und riss mit einem heftigen Ruck die Zeichnung vom Skizzenblock. Ein lautes Geräusch war zu hören, als das Papier zerriss. Er knüllte die Skizze zusammen, warf sie auf den Boden und begann, darauf herumzutrampeln. Carl starrte ihn fassungslos an.
    Das Männchen blickte auf. Er stand auf dem plattgetretenen Papier. Um ihn herum erklang Gekicher.
    »Ich habe mich gewiss nicht vorgestellt«, sagte er. »Mein Name ist Hertzog. Ich bin Zeichenlehrer, und dies ist die Königlich Dänische Kunstakademie, falls Ihnen das bisher entgangen sein sollte. Wir sind hier nicht auf einem Waldausfug, und dieser Raum ist nicht des Herrgotts eigene Natur.«
    Er stand mit geballten Fäusten und hochgezogenen Schultern da, als müsste er sich beherrschen, um Carl nicht dieselbe Behandlung angedeihen zu lassen wie gerade seiner Skizze. Er starrte ihm direkt ins Gesicht. Seine schmutzig braunen Augenbrauen waren buschig.
    »Wie heißt er?«
    Carl nannte seinen vollen Namen.
    Hertzog starrte ihn weiterhin an. Dann sprach er langsam und verbissen: »Jens Erik Carl Rasmussen. Ein guter dänischer Name. Ein gewöhnlicher dänischer Name, möchte ich sagen. Was lässt ihn also glauben, er sei der Herrgott?«
    Carls Zorn wich Verwirrung, und er missverstand die Frage.
    »Unser Herrgott? Ja, ich glaube an den Herrgott.«
    Ein höhnisches Grinsen zerknitterte das runzlige Gesicht des Männchens, das an eine leere Papiertüte erinnerte.
    »Hört er schwer? Ich bin nicht daran interessiert, ob er an den lieben Gott glaubt. Ich frage, ob er glaubt, er sei der Herr? Kennt er Brorsons Psalm über die Könige der ganzen Welt, die nicht fähig sind, auch nur das kleinste Blatt einer Brennnessel hervorzubringen?«
    Carl nickte stumm. Er verstand nicht, worauf Hertzog hinaus wollte.
    »Kann er ein Blatt an einer Brennnessel hervorbringen?«
    Carl schüttelte den Kopf.
    »Aber er kann wohl so ein kleines unbedeutendes Blatt zeichnen?«
    Carl nickte. Jegliche Aufsässigkeit war verschwunden. Er fühlte sich gedemütigt. Die anderen Schüler hatten sich auf Hertzogs Seite geschlagen und lachten schadenfroh bei jeder Frage.
    »Lass er mich raten. Er kann es, aber er tut es nicht. Wieso sollte er auch sein großes Talent an ein so hässliches Stück Unkraut verschwenden? Eine Blume kann er malen. Oh, das ist so schön. Einen ganzen Blumenstrauß. Oder den Buchenwald. Oder einen Abhang an der Küste. Mit Wald darüber. Den Himmel, die Wolken, die Wellen. Und wenn er dort mit seiner Leinwand steht, dann fühlt er, dass er besser ist als unser Herrgott. Er versetzt mal den Vordergrund, mal den Hintergrund. Er kann komponieren, das kann der Herrgott nicht. Jens Erik Carl Rasmussen übertrifft unseren Herrgott.«
    Das Gelächter war ohrenbetäubend.
    Hertzog drehte sich mit einem Ruck um. Er hatte einen feuerroten Kopf.
    »Worüber lacht ihr, ihr Banausen?«
    Das Gelächter brach abrupt ab. Die Schüler schlugen die Blicke nieder.
    »Glaubt ihr, ich rede hier nur über Rasmussen? Nein, meine Lieben, es geht wahrlich um euch alle zusammen. Ist es das Ziel der Kunst, nur gedemütigt die Natur zu kopieren? Nein, so denkt ihr gewiss nicht. Bestimmt habt ihr von all diesem Gerede gehört, den Ausdruck zu verschärfen und das Bedeutungslose wegzulassen. Das Wesentliche soll aus dem Bild hervortreten. Genies seid ihr, der ganze Haufen, klüger als der Herrgott, der dummerweise die Brennnessel erschuf und nicht die ganze Welt in einen lieblichen Rosengarten verwandelte. Aber dies ist eine Lehranstalt und keine Irrenanstalt. Wenn ihr den Herrgott übertreffen wollt, dann gehört ihr in die Irrenanstalt und nicht hierher zu mir!«
    Hertzog trat gegen Carls Staffelei, die zu Boden fiel. Dann ging er weiter zum

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