Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
nächsten Schüler, zerriss dessen Skizze und trat gegen die Staffelei. Im gesamten Halbkreis unterzog er jede Skizze und jede Staffelei der gleichen Behandlung. Der Lärm war ohrenbetäubend, als eine Staffelei nach der anderen umstürzte. Dabei unterbrach Hertzog seinen erregten Redestrom keinen Augenblick.
»Mir ist euer Genie egal!«, brüllte er. »Zum Teufel mit eurem Genie! Versteht ihr? Mich interessiert eine einzige Sache. Das ist euer Blick. Zeichnet, was ihr seht. Gehorcht eurem Blick! Das ist alles, worum ich euch bitte. Demut! Demut! Schluss mit den Torsi! Schluss mit Büsten! Heute zeichnet ihr alle Blätter! Ich schwöre, hätte ich ein Brennnesselblatt hier, ihr dürftet es zeichnen.«
Er stand inmitten der umgefallenen Staffeleien, die wie ein gefällter Wald um ihn herumlagen. Carl dachte, hätte Hertzog einen Hammer zur Hand gehabt, wäre er wohl auch noch auf die Gipsabdrücke hinter ihm losgegangen.
Am nächsten Sonntag war Carl zum Abendessen bei Frisch eingeladen. Er trug die von seinem Vater genähte Jacke mit den kurzen Schößen und das weiße Hemd mit Kragen. Um den Hals hatte er eine Krawatte gebunden. Auch Architekt Holm war geladen und einige weitere Herren, die er nicht kannte. Sie wollten seine Aufnahme in die Akademie feiern. Frisch bemerkte seinen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck sofort.
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, erkundigte er sich in seiner fürsorglichen Art.
»Ich habe eine Woche gebraucht, um ein Weinblatt zu zeichnen«, erwiderte Carl.
»Das klingt nach Hertzog.«
Ein Herr hatte sich zu Frisch gesellt. Sein ordentlich frisiertes Haar trug er in der Mitte gescheitelt. Ein gestutzter Bart rahmte ein Paar frischer roter Lippen ein. Der modisch gekleidete Frederik Aagaard war Mitte dreißig, sah allerdings jünger aus. Carl kannte seinen Namen. Aagaard war bereits als sehr jungem Mann das Neuhausen-Stipendium für ein Bild mit dem Titel Wildwachsende Feldblumen zugesprochen worden, und erst kürzlich hatte er ein Bild an die Königliche Gemäldesammlung verkaufen können. Es handelte sich um ein Sujet aus dem Dyrehaven, gemalt an einem Herbstmorgen nach der ersten Frostnacht, der Raureif hing noch in den Bäumen. Den Natureindruck hatte Aagaard virtuos nachempfunden. Durch die reifbedeckten Zweige wirkte das Ganze wie ein Feenpalast, der mit dem ersten Sonnenstrahl verdampfen würde. Sein handwerkliches Können war unbestritten. Carls Ansicht nach fehlte dem Gemälde dennoch eine Idee. Er hatte den Eindruck, als würden die reifbedeckten Bäume nicht in einem realen Waldboden wachsen, sondern bloß in der Fantasie des Malers.
»Ich hoffe doch, er hat Sie nicht abgeschreckt.«
Aagaard legte väterlich eine Hand auf Carls Schulter. Sein Ton klang spöttisch, und Carl hätte sich gern auf die gleiche Art von der Episode mit Hertzog befreit. Aber es gelang ihm nicht. Das Erlebnis bedrückte ihn, und er erwiderte nichts.
Frisch registrierte Carls Unbehagen an der Situation.
»Ich bin auch der Ansicht, dass er es zu weit treibt. Eine Woche mit einem Weinblatt! Carl ist doch bereits viel weiter.«
»Hertzog darf man nicht ernst nehmen«, fuhr Aagaard unangefochten von Carls Schweigen fort. »Er schmeißt Staffeleien um, reißt Skizzen in Stücke, brüllt und ist überhaupt ziemlich unangenehm. Jedes Jahr die gleiche Vorstellung, alles zu Ehren der Schüler des ersten Jahrgangs. Tja, und offenbar hat er es auch in diesem Jahr nicht ausgelassen? Er ist hoffentlich nicht darauf hereingefallen?«
Carl schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ja, lachen Sie nur darüber. Das ist der rechte Geist. Hertzog ist gar nicht so schlimm, wenn’s darauf ankommt. Er lebte in den dreißiger Jahren in München. Dort hat er all seine schlechten Manieren gelernt. Ein übler Haufen Bohemiens. Können Sie sich eine schlimmere Kombination als Pariser Leichtsinn und deutsche Verbissenheit vorstellen? Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass er ganz recht hat, was das Weinblatt angeht.« Wieder lachte Aagaard.
»Das meinen Sie doch nicht im Ernst?«, rief Frisch aus.
»Doch, doch, durchaus. Was hat der alte Eckersberg gesagt? Lasst uns nicht glauben, dass wir es besser könnten als der Herrgott. Wenn wir es nur ebenso gut können, sollten wir uns freuen. Wenn Sie wüssten, wie viele Weinblätter ich zu meiner Zeit gezeichnet habe. Und ich habe auch keinen Schaden genommen. Im Gegenteil.«
Frisch sah einen Moment aus, als sei ihm das Gespräch unangenehm. Schließlich breitete er die
Weitere Kostenlose Bücher