Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
sie sich sacht an der Wange. Ihr braunes Haar war in der Mitte gescheitelt und stramm nach hinten gekämmt. Den Kopf krönte ein schwerer gefochtener Zopf.
Es lag ein Fragen in ihrem Blick, und später dachte er oft darüber nach, ob er dieses Fragen je beantwortet hatte.
Hätte er es beantworten können? Sollte er es? Müsste es nicht für alle Zeit etwas Ungesagtes zwischen ihnen geben?
Im dunklen Hintergrund des Gemäldes saßen zwei Frauen. Er hatte sie so platziert, dass es aussah, als hätten sie sich wie zwei Unheil verkündende Raben auf Anna Egidias Schultern niedergelassen. Beide waren mit ihrem Nähzeug beschäftigt. Die eine hatte ein schmales, verzogenes Gesicht mit einer unschön gewölbten Stirn; die andere, eine ältere Frau mit einer Haube auf dem Kopf, sah mit einem sanften und doch müden Ausdruck vor sich hin, der davon zeugte, dass das Leben sie schon sehr früh enttäuscht haben musste. Beide waren schwarz gekleidet, als würden sie Trauer tragen. Es handelte sich um Anna Egidias ältere Schwester, die verwachsene Dorothea, und ihre Mutter.
Das Bild stammte aus ihrer Verlobungszeit. Voller Licht und Liebe hätte es sein sollen, eine einzige Huldigung an das Objekt seiner Liebe. Stattdessen war es ein Triptychon mit einer unsicheren, zweifelnden Frau im Mittelpunkt geworden, die von zwei schwarzgekleideten Frauen fankiert wurde. Und diese beiden schienen sich verschworen zu haben, dem Bild einen Ton von Freudlosigkeit zu verleihen.
Weshalb hatte Carl, der doch eigentlich die Ansicht vertrat, dass es die Aufgabe eines Malers sei, das Leben von seinen schönsten und heitersten Seiten zu zeigen, diese düstere, beinahe spöttische Darstellung seiner jungen Liebe gewählt?
Weil er wahrhaftig war? Oder enthielt das Bild einen Hilfeschrei, weil er zu viel gesehen hatte, als er vor seiner Verlobten stand?
Alles an seiner Beziehung zu Anna Egidia kam ja aus zweiter Hand. Das konnte, das durfte nicht gesagt werden.
Aber sie wussten es beide.
Nicht einmal ihr Name gehörte ihr. Anna Egidia war nach einer älteren Schwester benannt worden, die im Alter von zwei Jahren starb. Sie trat mit einer klaren Aufgabe ins Leben. Sie sollte eine andere sein, ein Vakuum ausfüllen, Trost und Ersatz darstellen. Ihr Leben war zur Stellvertreterin bestimmt.
Und doch wollen alle Menschen um ihrer selbst willen geliebt werden. Das hatte sie vermutlich gedacht. Darin muss ihre Hoffnung bestanden haben. Eines Tages wäre sie eine erwachsene Frau und würde einem Mann begegnen, der nicht wusste, dass man sie nach einer gestorbenen Schwester benannt hatte, und die Liebe würde sie endlich von ihrer Rolle als halber Mensch befreien.
Doch auch hier war ihr jemand zuvorgekommen. Die sechs Jahre ältere Schwester Henrietta hatte sich mit Carl verlobt, lange bevor er Anna Egidia beachtete; nur Henriettas Tod hatte seinen Blick in Richtung der kleinen Schwester gelenkt. Immer würde sie mit einer Abwesenden verglichen werden, als wäre sie durchsichtig, als stünde eine andere, deutlichere Figur hinter ihr.
War sie sich darüber im Klaren? Heiratete sie ihn aus Hoffnung oder Resignation?
Acht Jahre kannte Carl Anna Egidia, ebenso lang, wie er Henrietta gekannt hatte. Er hatte sie als kleines Mädchen gesehen, dann als großes; immer ein wenig unbeholfen und zurückhaltend, aber mit diesem verzehrenden Blick, der ihrer Schwester überallhin folgte, als könnte sie nur durch Henrietta leben. Anna Egidia hatte sich als ergebenste Dienerin von Henrietta und ihm erwiesen, als diskrete Mitwisserin ihrer aufkeimenden Liebe, als ein Luftgeist, kaum aus Fleisch und Blut und schon gar nicht aus dem Fleisch und Blut einer Frau. Nie hatte Carl sie so angesehen, wie er eine Frau ansehen würde.
Hatte sie ihn in all diesen Jahren geliebt, erst mit kindlicher Bewunderung, dann mit der Begierde einer erwachsenen Frau? Wollte sie wie ihre Schwester sein? Und hatte sie sich schließlich in Henrietta verwandelt, als sie neben ihm vor dem Altar stand und ihr Ja in einem Ton füsterte, der eher nach einer Frage als nach einer Antwort klang? Oder erfüllte sich ihr Schicksal in diesem Augenblick endgültig, und sie wurde zu Anna Egidia, der kleinen Helferin, die den Kummer der anderen auf sich nahm – und die unmögliche Erwartung, dass ein Mensch einen anderen ersetzen kann, indem er einfach seinen Namen und seine Rolle übernimmt?
Und Carl? Was hatte er gefühlt? Liebe, Trauer, Mitleid und Selbstmitleid, eine ganze Palette von sich
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