Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Mannes?
Im Grunde konnte sich Carl die scheue Anna Egidia in der Ewigen Stadt jedoch gar nicht vorstellen, und so endete es schließlich damit, dass die Tante sich diesem undurchführbaren Projekt widersetzte. Zumal ihr und Anna Egidia die Idee auch eigenartig vorgekommen sein musste, da Carl sich ja ununterbrochen über die Italiener beklagte. Sollte das etwa sein Hochzeitsgeschenk sein: eine Reise in das Land der Insektenstiche, der Tierquäler und der sonderbaren Essgewohnheiten?
Carl wusste um den Widerspruch. Denn gleichzeitig faszinierten ihn die Reise und die Größe dessen, was er sah. Nur mochte er es sich nicht eingestehen und glaubte, die Heuchelei wäre der Preis der Liebe. Vielleicht hatte er auch gehofft, Anna Egidias die Augen öffnen zu können, damit ihre einzige Gemeinsamkeit nicht das künftige Heim und eine Sackgasse in tröstlicher Gemütlichkeit blieb.
Carl dachte an Paris. Er hatte auf dem Montmartre gestanden und über die Stadt geblickt, die wie immer halb verborgen in dem Dunst lag, den ihr emsiges Leben hervorbrachte. Wirklich beeindruckt war er nicht. Der Anblick der Eisberge Grönlands steckte noch in ihm, der ungeheuren kalbenden Gletscher, die eine gewaltige Dünung auslösten, wenn sie abbrachen und wie umstürzende Kirchtürme ins Meer fielen. Einen Augenblick hatte er sich dem Schöpfer nahe gefühlt und dessen Perspektive geteilt. Er dachte an die Grönländer, die in ihren zerbrechlichen Kajaks auf den langen Rücken der eisigen Dünung ritten, und er begriff das Kleinliche und Eitle des bürgerlichen Lebenskampfes. In Paris war er ein Eskimo gewesen.
In der Weltstadt hatte er sich nicht irgendeinem Schöpfer nahe gefühlt, und doch gab es auch hier etwas Gewaltiges und Großes, das ihn anzog. Er hatte Paris im Jahr nach der Niederschlagung der Pariser Kommune besucht, und ein großer Teil der Stadt lag noch in Ruinen. Bereits am ersten Tag unternahm er einen Spaziergang um den Louvre und sah sich die erheblichen Schäden an, die der Zorn der Volksmenge dem Gebäude zugefügt hatte. Ein ganzer Flügel der Tuilerien war zerstört, und vom Rathaus, dem Hôtel de Ville, standen nur noch die rußigen Mauern.
In einem Lokal am Palais Royal hatte er bei Nudelsuppe, Lammbraten und einer guten Flasche Rotwein versucht, den Anblick der Zerstörungen zu verdrängen, aber es war ihm nicht gelungen. Auf eine Weise, die ihn selbst erschreckte, hatten auch die Zerstörungen ihre eigene verlockende Majestät. Das vernarbte und beschädigte Paris schien ein Chaos in ihm auszulösen.
Nach dem Essen hatte er die Stadt verlassen und sich Versailles und Trianon angesehen; aber die goldenen Säle begeisterten ihn keineswegs so, wie er es erwartet hatte. Stattdessen erging er sich in Betrachtungen über die Ungerechtigkeit, die sich hinter der verschwenderischen Pracht verbarg.
In einem großen Saal auf Schloss Trianon stand eine Sammlung vergoldeter Kutschen, und vor allem eine erregte seine Aufmerksamkeit. Man hatte sie gebaut, um Kaiser Napoleons Erstgeborenen zur Taufe zu transportieren, sie war noch üppiger verziert als die übrigen Kaleschen. Mit einem Mal verstand Carl den Zerstörungsdrang der Kommunarden. Er ertappte sich sogar dabei, mit ihnen zu sympathisieren. Angegriffen und von allen Seiten umzingelt hatten sie aus Wut und Verzweifung die prächtigsten Gebäude von Paris in Brand gesteckt. Wie er hatten sie die Verschwendungssucht der Regenten vor Augen gehabt und beschlossen, sämtliche Spuren einer Vergangenheit auszulöschen, die für sie nur Demütigungen und Elend bedeutete.
Einige Jahre zuvor hatte er Goldschmidts Roman Die Erben über das sinnlose Leben reicher Müßiggänger in den europäischen Hauptstädten gelesen. Eine Szene aus Paris hatte Carl besonders beeindruckt. Nun fiel sie ihm wieder ein und stand ihm mit einer Kraft vor Augen, als handele es sich um eine Verunreinigung seiner Hornhaut, die weitere Sinneseindrücke verhinderte. Es ging um die Auseinandersetzung zweier junger Rivalen, die vom Spielteufel besessen waren. Einer von ihnen setzte alles aufs Spiel – und verlor. Noch bevor jemand eingreifen konnte, hatte er eine Pistole gezogen und sich in den Kopf geschossen.
Carl beeindruckte weniger die Handlung, eher der morbide Realismus in der Beschreibung des Resultats. Der junge Mann schießt sich die Hälfte des Kopfes weg. Und als die Polizei erscheint, zeigt ein Offizier auf einen weißlichen Fleck von der Größe eines Taubeneis, der sich auf der
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