Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
ihr ihn anfehte, daheim zu bleiben – mit Ausnahme der Worte, die aus ihrem Mund kamen. Sie wollte nur das Beste für ihn. Er spürte, dass sie vollkommen uneigennützig handelte, und es rührte ihn. Ihre künftige Verbindung entstand aus ihrer Uneigennützigkeit und seinem Pfichtgefühl – im Grunde waren es die gleichen Motive.
Und die Kunst?
Wenn er das Stipendium nicht annahm und nicht in den Süden reiste, würde er die Position verlieren, die er sich mit seiner Reise nach Grönland erobert hatte. Als Künstler konnte er sich keinen Stillstand erlauben, wenn er weiterhin für ihren Lebensunterhalt sorgen wollte.
Er erklärte es ihnen und alle drei waren sich einig. Sie hörten ein Versprechen in seinen Worten.
»Henrietta hätte es gebilligt«, sagte die Tante.
Carl verlobte sich vor seiner Abreise mit Anna Egidia. Das Gleichgewicht zwischen Maler und Mensch war wiederhergestellt. Er verließ sie, und er verlobte sich mit ihr. Er küsste sie zum ersten Mal. Ihre Lippen waren nachgiebig und weich, und Carl versuchte, nicht an Henrietta zu denken. Anna Egidias Kuss strahlte Wärme aus, und ein Mann brauchte Wärme.
Zum ersten Mal empfand er eine Art von Dankbarkeit.
I n Frankreich und Italien wanderte Carl durch weite Landschaften und uralte Städte und sehnte sich nach Hause zu Anna Egidia. Jedenfalls bildete er sich das ein. Er wusste nicht, ob es ein Gefühl der Sehnsucht oder der Pficht war. Rückblickend kam es ihm vor, als hätte er sich beinahe zu dieser Sehnsucht gezwungen. Gern wollte er seine Liebe unter Beweis stellen, nicht zuletzt sich selbst gegenüber.
In den Briefen, die er regelmäßig nach Hause schrieb, bagatellisierte er seine Erlebnisse in der Fremde. Anna Egidia sollte ja nicht das Gefühl bekommen, dass sie im Vergleich mit all den neuen Eindrücken verblasste. Lieber wäre er bei ihr, seufzte er. Sein Gemüt hätte sich verdunkelt, behauptete er und ging sogar so weit, dass er den Tag verfuchte, an dem er das Stipendium der Akademie angenommen hatte.
Die Briefe beendete er stets mit einem lieben Gruß von »Deinem melancholischen Carl«, und eifrig nutzte er jede Gelegenheit, um seinen Unmut über die weniger angenehmen Seiten der Reise mitzuteilen, sodass es schließlich aussah, als wäre er nur mit großem Widerwillen unterwegs. Rubens’ nackte Frauenfiguren, die er in Holland sah, erschienen ihm fett und ekelhaft. Seinem Eindruck nach bestand Paris aus nichts anderem als Rinnsteinen und Essensdunst, und was Italien anging, so beschäftigten ihn vor allem die Insektenbisse; darüber hinaus beschwerte er sich über die Tierquälerei und die sonderbaren Essgewohnheiten der Italiener. Außerdem nahmen ihm die fremden Sprachen, die er nicht beherrschte, das letzte Vergnügen an der Reise.
Immer wieder beschrieb Carl das Heim, das sie sich eines Tages schaffen wollten. Er nannte es sein Lebensziel: Ruhe, um zu malen, ein gemütliches Zuhause und sie.
Das alles hatte er inzwischen gefunden. Aber war Ruhe nicht gefährlich für einen Künstler? Reichte Gemütlichkeit aus?
Ihren schlafenden Körper neben sich im Bett konnte er nicht mehr entbehren, diesen schwer atmenden Körper, den die Jahre und die acht Geburten kräftig und korpulent hatten werden lassen, diesen handfesten Leib, nach dem er in der Dunkelheit die Hand ausstrecken konnte, wenn er von seltsamen Gedanken heimgesucht wurde. In den ersten Jahren hatte Anna Egidia sich jede Nacht an ihn gedrückt. Wie ein Tier, das Schutz suchte. Dann hatte es sich umgekehrt, und Carl suchte stumm die Wärme ihres Körpers.
Seine erste Grönlandreise hatte er noch unbefangen angetreten. Doch auf der Reise in den Süden passierte es. Carl hielt es für Liebe. Er ging so weit, dass er Anna Egidia bat, ihm nach Rom zu folgen, um dort zu heiraten. Holm, der als sein Vertrauter die praktischen Dinge regeln sollte, beschrieb die Reaktionen seines Bekanntenkreises. »Na dann, gute Nacht, Kunst«, hatte der alte Frisch trocken bemerkt, als er von Carls Plänen hörte. »Er muss verrückt sein«, ergänzte Aagaard. Im Übrigen erwiesen sich die praktischen Probleme als nahezu unüberwindlich. Allein konnte Anna Egidia nicht reisen. Über die Mittel, eine Reisebegleitung zu bezahlen, verfügten sie nicht, daher hätte sie sich auf eine fremde Gesellschaft verlassen müssen. Ein Dr. phil. aus Malmö antwortete auf die Anzeige, die Holm in die Berlingske Tidende gesetzt hatte. Aber wer garantierte die Verlässlichkeit dieses
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