Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
widersprechenden Empfindungen. Und von nun an war sie für ihn da. Er sah eine Herzlichkeit, die er vorher nicht bemerkt hatte, obwohl sie sicher schon immer ein Teil von ihr gewesen war. Ein Teil ihrer Ergebenheit. Er sah diesen verzehrenden Blick, der sich nun auf ihn richtete, als böte er ihr die einzige Möglichkeit zu leben.
Pficht.
Dieses Wort gestand er sich selbst gegenüber nie ein. Aber es hatte auch etwas mit Pficht zu tun.
Schließlich waren sie Vetter und Cousine. Also bereits so etwas wie eine Familie.
Als Vetter Carl war er aus Ærøskøbing nach Kopenhagen gekommen. Dort hatten sie zusammengehockt, die vier Frauen: ein Kind, eine Körperbehinderte, eine alte Frau und eine junge Frau in seinem Alter. Er hatte Verantwortung empfunden. Er hatte die Erwartungen in den Augen seiner Tante gesehen. Er sollte sie wieder zu einer Familie machen, und er nahm sich dieser Aufgabe an. Sie wurde zum Maßstab seines Lebens. Er war so gut wie die Bürde, die er schultern konnte.
Anna Egidias Porträt hatte er gemalt, weil er es nicht mehr wagte, irgendetwas für gegeben zu nehmen. Plötzlich gab es nicht mehr genügend Zeit. Das Porträt gehörte zu einem Teil des Gleichgewichts, das er nach Henriettas Tod wieder aufbauen musste. Es markierte den Wendepunkt, an dem die Pficht in sein Leben einzog. Als er Anna Egidia mit den zwei Raben auf der Schulter malte, hatte sein Pinsel gesehen, was seine Augen nicht sehen wollten.
Carl ging die Landungsbrücke am Trangraven hinunter wie ein Mann, der gerade einen schweren Verlust erlitten hatte. Aber er empfand mehr als das. Er sah sich auch als Erlöser. Er hatte nie daran gezweifelt, dass er alle vier heiraten würde, wenn er Henrietta zur Frau nahm. Nun war Henrietta tot und die drei trauernden Hinterbliebenen sahen ihn noch immer mit den gleichen Blicken an. Er galt weiterhin als der Beschützer der Familie, er, in dessen Innerem ein Sturm aus Selbstquälerei und Selbstbezichtigungen tobte.
Auf dem Porträt blickte Anna Egidia ihn fragend an. Welche Frage hatte sie ihm gestellt? »Liebst du wirklich mich?«
Die nicht zu beantwortende Frage.
Er hatte auch eine Frage an sie. »Warum kann ich nicht sein, wer ich bin? Schwach, voller Zweifel, nicht zuletzt an meinen eigenen Gefühlen? Ein Mensch, der sich unsicher vortastet und Angst hat vor den meisten Anforderungen des Lebens.«
Doch er hatte diese Frage nie wirklich gestellt, denn er kannte die Antwort. Weil das Leben es erforderte. Und er forderte es auch von sich. Wenn nicht er seine Familie beschützte, wer dann?
Noch so viele Jahre später hallten Pastor Fabricius’ Worte über die Selbstsucht in ihm nach. Gesagt hatte sie ein Mann, der seinen eigenen Forderungen nicht entsprach. Das machte die Worte aber nicht weniger wahr. Aber hieß das erste Gebot der Kunst an den Künstler nicht gerade Eigenliebe? Das Talent forderte sein Recht. Alles andere hatte sich unterzuordnen.
Zum ersten Mal ahnte Carl, dass der Maler und der Mensch in ihm nicht immer dasselbe wollten. Er hatte auf die Reise nach Grönland gesetzt. Nun hatte er ein Renommee. Er bekam das Stipendium der Akademie. Die große Bildungsreise in den Süden, zu den kräftigeren und helleren Farbpaletten Frankreichs und Italiens, wurde plötzlich möglich. Sollte er aufbrechen? Der Maler in ihm sagte ja. Und der Mensch – ja, was war der Mensch? Das Herz? Nicht das Herz lag in der anderen Waagschale und bat ihn zu bleiben. Sondern die Pficht, und er wusste nicht, in welchem Organ er die Pficht zu suchen hatte.
Von einer Phase der Verliebtheit konnte zumindest bei ihm keine Rede sein. Das Band bestand ja bereits, und Herzensgründe hatten es nicht geknüpft. Und Anna Egidia? Sie sah zu ihm auf, als stünde er auf dem welthöchsten Berggipfel. Sie liebte ihn innig, bis zur Selbstaufgabe, mit der Liebe eines vaterlosen Mädchens. Diese Liebe hatte nichts Ebenbürtiges, und daher konnte er nicht ablehnen. Er fühlte sich durch ihre Hilfosigkeit gebunden.
Er könne jetzt nicht in den Süden reisen, sagte Carl und hörte selbst, wie hohl seine Worte klangen. Die Tante und auch Anna Egidia drängten ihn, seine Chance zu ergreifen. Welche Wege sich ihm damit öffnen würden, sagten sie. Er dürfe nicht ablehnen.
Anna Egidia nahm seine Hand, wie sie es an dem folgenschweren Tag am Kai getan hatte, als er am Trangraven an Land ging. Er spürte ihre Wärme. Noch hatten sie sich nicht geküsst. Er schaute in ihren verzehrenden Blick und wusste, dass alles in
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