Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
begann in ihm zu wachsen, und am Boden der Schuld keimte die Pficht.
Später erfuhr er, dass die Wohnung am Solitudevej den größten Teil des Winters über kalt geblieben war. Die Familie hatte kein Geld, um zu heizen, und war zu stolz gewesen, jemanden um Hilfe zu bitten. Er war doch ihr Unterstützer. Aber er war fort, und die Erkenntnis seines Versagens bestärkte ihn in dem Entschluss, den er in den ersten Minuten der Trauer gefasst hatte.
Er musste wiedergutmachen, was er angerichtet hatte.
»Warum bin nicht ich anstelle von Henrietta gestorben?«, sagte Anna Egidia unter Tränen.
»Sag so etwas nicht.«
Carl hörte an der Stimme der Tante, dass Anna Egidia sich nicht zum ersten Mal bereit erklärte, sich für ihre Schwester zu opfern. Später verstand er den Grund. Sie galt als ihre Stellvertreterin im Leben. Warum sollte sie es nicht auch im Tod sein? Carl kämpfte, um den verbotenen Gedanken von sich fernzuhalten: Vielleicht wäre es anders tatsächlich besser gewesen. Henrietta lebendig, Anna Egidia tot.
Die beiden Schwestern ähnelten sich nicht. Henrietta war eine lebenspraktische und fröhliche junge Frau gewesen, trotz der Umstände in der engen Wohnung, in der sie mit ihren beiden Schwestern und der Mutter zusammenlebte. Mit ihren Lachgrübchen und der funkelnden kastanienbraunen Mähne, die einen besonders faszinierenden Kontrast zu ihren kobaltblauen Augen bildete, hatte sie einen Lebensmut ausgestrahlt, von dem er sich anstecken ließ. Henrietta hatte die Familie zusammengehalten, und er wusste, dass sie auch ihn zusammengehalten hätte. So oft hatten sie zusammen gelacht, aber vor ihr schämte er sich auch nicht zu weinen.
Henrietta war vierzehn Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb. Für sie bedeutete es einen Schlag, aber keinen Schlag, der sie niederstreckte. Sie blieb aufrecht stehen und wurde umso stärker.
Carl brauchte ihre Stärke, aber erst jetzt, als sie nicht mehr da war, erkannte er es. Er hatte die Existenz von Henrietta für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Schließlich stammten sie aus einer Familie und kannten sich schon so lange. Nie hatte er ihr Porträt gemalt. Als ob er sich nicht hatte dazu entschließen können, obwohl er sich längst für sie entschieden hatte. In ihren Augen zeigte sich diese naturwidrige kobaltblaue Farbe. Es gab kein menschliches Auge, das so aussah, nicht dieses wilde, ungezähmte Blau. Man hätte ihn kritisiert, wäre er ihrer Augenfarbe treu geblieben. Daher hatte er sie nicht gemalt. Am nächsten war er ihr noch beim Porträt von Hans Egede gekommen, der auf Håbets Ø kniete und vor den Eskimos betete. Er hatte dem Apostel Grönlands ihre Augen gegeben. Seine Sehnsucht, vielleicht aber auch eine Vorahnung, diktierten seinem Pinsel diesen kleinen Aufstand gegen die malerische Konvention. Doch Henrietta selbst hatte warten müssen.
Sie hätten genügend Zeit, hatte er sich gesagt, obschon die Wahrheit offenbar anders aussah.
Fehlte ihm der Mut?
Durch Henriettas Tod hatte er etwas von seiner Persönlichkeit verloren. Etwas von ihm hatte sie mit sich genommen. Nie wieder würde er die Reise antreten können, die in unerforschte Gebiete tief in ihnen beiden führte, in ein unbekanntes Grenzland, in das sie zusammen vordrangen. Er hatte gewusst, dass sie dort mit den Jahren zusammengewachsen wären. Doch mit ihrem Tod war ein Schlagbaum niedergegangen, und er besaß keinen Pass. Von nun an war er abgeschnitten von einem Teil seiner eigenen Seele. Seine geistige Anatomie hatte man einer Amputation unterzogen, und seine Seele litt an den gleichen Phantomschmerzen wie verwundete Soldaten, deren fehlende Glieder weiterhin die Nervenbahnen reizen.
Carl schmerzte es dort, wo er und Henrietta eins gewesen waren.
S einen künstlerischen Durchbruch musste er in Trauerkleidung feiern.
Mit seinen Hoffnungen auf die Heimkehr hatte Carl recht behalten. Er stellte auf Charlottenborg aus und erntete Anerkennung für seine Bilder, die als Pionierarbeit gelobt wurden.
Den frisch gestutzten Kinnbart ließ er wieder wachsen. Er hörte auf, die Spitzen des Knebelbarts zu wichsen. Seine Wangen fielen ein, seine Augen bekamen einen abwesenden Blick. Die Leute mochten denken, dass ihn der Aufenthalt am Ende der Welt angegriffen hätte. Aber es war die Heimkehr, die ihn gezeichnet hatte.
Er malte ein Porträt von Anna Egidia. Sie saß an einem Tisch, vor sich ein Schreibheft. Die eine Hand lag mit einem Stift auf dem Heft, mit der anderen berührte
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