Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Schulter eines der Anwesenden abzeichnet.
»Was ist denn das?«, fragt er und beantwortet die Frage selbst: »Ich denke, es ist ein Stück von Herrn de Potters Hirn.«
Carl wusste, dass Tausende von Kommunarden nach dem Fall der Pariser Kommune an die Mauern gestellt und hingerichtet wurden. Nun konnte er an keinem Gebäude mehr vorbeigehen, ohne sich seine Mauern übersät mit weißlichen Flecken vorzustellen, die auf Abstand Vogelkot glichen, sich aus der Nähe aber als Überreste zerschossener Gehirne herausstellten. Es waren die Spuren von Träumen Verzweifelter, die seine entfammte Fantasie heimsuchten.
Wie er sich inmitten der Eisberge Grönlands dem Schöpfer nahe gefühlt hatte, spürte er nun die Nähe eines anderen Wesens von ähnlich majestätischen Dimensionen, nur wusste er nicht, wie er es bezeichnen sollte. Dunkel und unbezähmbar war es und besaß eine ähnliche Anziehungskraft wie der Schöpfer. Wie dieser war es erhaben über die Kleinlichkeit des bürgerlichen Alltags. Als ihm in der Kirchenruine von Hvalsø schwindlig und schlecht geworden war, hatte er dieses Gefühl zum ersten Mal erlebt. Nun kehrte es zurück, gestärkt von der lockenden Kraft der Versuchung.
Am folgenden Tag ging Carl in den Invalidendom und schaute sich Napoleons braunroten Sarkophag an. Das Grab war umgeben von zwölf Marmorfiguren, und hier fand er endlich die edle Gesinnung und Erhabenheit, die er vermisste, seit er Grönland verlassen hatte. Hier zeigte sich die Aufgabe der Kunst als einer Macht, die allein imstande war, die Menschenseele zu veredeln. Er verließ den Invalidendom aufrecht und mit sicherem Schritt, befreit von seinen Zweifeln.
In Italien erlitt er einen Rückfall. Nach und nach entwickelte sich in ihm ein regelrechter Zorn über die Unordnung, die überall herrschte. Die Bevölkerung des Landes erwies sich als bodenlos ungebildet. Die meisten waren des Lesens und Schreibens nicht kundig. Viele Bauern konnten auf einer Uhr nicht ablesen, wie spät es war. Von Bologna bis zur Südspitze Siziliens waren die Berge und Wälder unsicher. Über das halbe Land herrschten Räuber und Banditen, und obwohl sechzigtausend Soldaten sie permanent jagten, schien die Ordnungsmacht außerstande zu sein, irgendetwas gegen sie auszurichten. Die wenigen gebildeten Menschen, denen er begegnete, behaupteten, die Ursache des ganzen Unglücks läge in der Pfaffenherrschaft, und diese Meinung teilte er schließlich. Ihn überkam wieder die Pariser Krankheit, diese Schwindel erregende Faszination der Zerstörung, die er beim Anblick der niedergebrannten Gebäude empfunden hatte. In einem seiner Briefe an Anna Egidia schrieb er in unkontrolliertem Zorn, am besten wäre es, sämtliche Priester auf einmal aufzuhängen und überall Zwangsschulen einzuführen. Hinterher fühlte er sich nicht wirklich wohl bei dem Satz, dennoch ließ er die Worte stehen.
Carl hatte immer die Ansicht vertreten, dass man nur ausgeglichen in der Lage wäre, etwas zu schaffen. Daher mochte er Paris nicht und dachte ohne Freude an die Weltstadt zurück. Sie hatte zu viele gegensätzliche Gefühle in ihm hervorgerufen, und er glaubte, die Kunst würde sich in diesem Chaos verirren und ihre Mission verlieren – zu erhöhen und zu veredeln.
In Paris hatte sich ein Schlund geöffnet, und nun, viele Jahre später, wusste er nicht, ob er die richtige Wahl getroffen hatte, als er vor dem Grab Napoleons diesen Abgrund einfach zuschüttete. Die Eisberge Grönlands hatten sich als ganz anderer Impuls erwiesen, so wie das Leben in Marstal, Ærøs Hügel mit dem herbstreifen Korn und dem blühenden Flieder und das Spiel der Lichter am Morgenhimmel.
Es gab so viele Möglichkeiten, dass ein Menschenleben zu kurz war, um sie alle zu erproben. Man hatte zu wählen. Wählte man nicht, wurden die Entscheidungen durch Zufälle getroffen. Er hatte versucht, seine Wahl in Übereinstimmung mit seinen Idealen zu treffen. Konnte die Zeit auch für Ideale ablaufen, die von sich selbst behaupteten, ewig zu gelten? War selbst eine Wahl, die der tiefsten Überzeugung entsprang, nur von begrenzter Gültigkeit? Glich die Zeit einem Schiff auf dem Weg zum Horizont, das zunächst noch deutlich zu sehen ist und dann allmählich immer mehr verschwimmt, bis das Wesentliche kaum noch zu erkennen ist?
C arl hatte sich einen gewissen Ruhm erarbeitet, als er als junger, unerfahrener Künstler von seiner ersten Reise nach Grönland heimkehrte. Aber er hatte so viele Ideen. Er
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